am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Bericht: Ruth Barnett

01.02.2018

Ruth Barnett zu Besuch in Gießen vom 6. bis zum 9. Februar 2018

Seit Ursula Krechels Roman "Landgericht" weiß eine große Leserschaft vom schwierigen Lebensweg der Familie des jüdischen Richters Richard Kornitzer aus Berlin, von Verfolgung, Exil, schwieriger Rückkehr und der Rettung seiner beiden Kinder. Krechels Roman liegt allerdings eine reale Lebensgeschichte zugrunde: Es ist die Familiengeschichte von Ruth Barnett, die 1935 in Berlin-Charlottenburg geboren wurde und 1939 als kleines Mädchen fast in letzter Minute mit ihrem Bruder Martin im Rahmen der sogenannten Kindertransporte aus NS-Deutschland nach England entkam. In ihrem Erinnerungsbericht "Nationalität: Staatenlos" (Metropol 2016) erzählt sie anschaulich von ihrer schwierigen Existenz als heimat- und staatenloses Mädchen in der Fremde, von ihren Jahren in verschiebenden Heimen und Pflegefamilien. Ihre Rettung wurde zu einem prägenden Einschnitt für ihr ganzes weiteres Leben. Das kleine Mädchen, das nicht verstehen konnte, warum ihre Eltern es wegschickten, litt auch als Jugendliche und junge Erwachsene nach dem Krieg unter dem Gefühl, anders und fremd zu sein.

Die eigene Leidensgeschichte, die eigene Erfahrung von Entwurzelung, Identitätsverlust aber auch Selbstbehauptung stellen jedoch für Frau Barnett zugleich die Motivation dar, sich seit vielen Jahren als Zeitzeugin in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen zu engagieren und über den Holocaust aufzuklären; so beispielsweise auch am 7. Februar 2018 an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminares unter der Leitung von Monika Rox-Helmer und Norman Ächtler, das sich mit dem Thema der Kindertransporte beschäftigte, sowie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminars unter der Leitung von Anika Binsch, die sich mit frühen Werken der Holocaustliteratur von 1933 bis 1949 auseinandergesetzt haben, nahmen die Chance wahr, mit Frau Barnett ins Gespräch zu kommen. Eindrücklich machte Frau Barnett deutlich, dass ihre Geschichte, ihr Leidensweg nicht mit der Ankunft in England beendet war, sondern vielmehr dort erst begann. Anhand ihrer eigenen Erfahrungen betonte sie wiederholt, wie wichtig es ist, eigene Vorurteile zu erkennen, zu überdenken und zu überwinden und den Menschen mit "just a little bit more kindnesss", so Barnett, zu begegnen, denn die Mehrheit der – auch heute – geflüchteten Menschen habe nicht ohne Weiteres ihr Familien, ihr zu Hause, ihr Leben zurückgelassen. Die Studierenden diskutierten mit Frau Barnett intensiv über Kategorien, wie etwa Nationalitäten oder Religionen, mit denen wir uns voneinander abgrenzen und welche Schwierigkeiten und Probleme entstehen, wenn sie als ‚Werkzeuge‘ der Diskriminierung oder zur Rechtfertigung von Gewalttaten benutzt werden.

Ferner besuchte Ruth Barnett am 8. und am 9. Februar 2018 Schülerinnen und Schüler am Johanneum Gymnasium in Herborn sowie an der Ricarda-Huch-Schule in Gießen. Eine Schülerin des Johanneums fragte vor allem auch nach dem weiteren Lebensweg von Ruth Barnetts Bruder Martin, der im Gegensatz Frau Barnett zwar später mit seiner Frau wieder in Deutschland lebte, der aber nach allem Schwierigkeiten hatte, Fuß zu fassen, da sein Abschluss an der Universität Cambridge nicht anerkannt wurde. Die Schülerinnen und Schüler an der Ricarda-Huch-Schule sprachen mit Frau Barnett vor allem auch über das Schicksal der Sinti und Roma während und nach dem Holocaust, die lange darum kämpfen mussten – und teilweise leider immer noch müssen –, dass ihr Leiden unter dem NS-Regime öffentlich anerkannt wird. Denn im Mittelpunkt aller drei Gespräche stand immer der Appell von Ruth Barnett: "I want you to think!". Keiner müsse ihren Standpunkt einnehmen, aber wir alle müssten unsere Realität, unsere Vorstellungen, unsere Vorurteile sowie die Überlegungen und Entscheidungen auf politischer Ebene hinterfragen und wachsam bleiben. Nur wenn wir allen Geschichten Gehör verschafften, wenn wir alle Perspektiven wahrnähmen, so Frau Barnett, könnten wir Strukturen erkennen und unterbinden, die ansonsten in Diskriminierung und Verfolgung enden und somit leider auch weiterhin den Weg für Genozide bereiten würden.

Organisiert und begleitet wurden die Schulbesuche von Anika Binsch von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur in Absprache mit Kristine Tromdsdorf am Johanneum Gymnasium und Eckhard Pfeffer an der Ricarda-Huch-Schule.


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Arbeitsstelle Holocaustliteratur
Otto-Behaghel-Str. 10 B / 1 · D-35394 Gießen · Deutschland
arbeitsstelle.holocaustliteratur@germanistik.uni-giessen.de
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