am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Es „braucht eine Erinnerungskultur, die zu Hause beginnt“ – Veranstaltungsbericht zum Vortrag und Gespräch mit Christoph Heubner

29.11.2023

27. November 2023

Rund 60 Teilnehmer:innen fanden am 27. November 2023 trotz winterlicher Wetterbedingungen den Weg in das International Graduate Centre for the Study of Culture der Justus-Liebig-Universität Gießen oder waren online zugeschaltet, um auf Einladung der Arbeitsstelle Holocaustliteratur und der Lagergemeinschaft Auschwitz – Freundeskreis Auschwitz e. V. den Vortrag von Christoph Heubner, dem Exekutiv-Vizepräsidenten des Internationalen Auschwitz Komitees, zu verfolgen. Heubner, der den deutschen Erinnerungsdiskurs der letzten Jahrzehnte maßgeblich geprägt und mit großem Nachdruck stets die Perspektive der Überlebenden in die öffentlichen Debatten eingebracht hat, sprach in seinem Impulsvortrag und in der anschließenden Diskussion unter der Moderation von Gerhard Merz (Vorsitzender der LGA) über die Herausforderungen, aber auch über die Chancen und Perspektiven der Erinnerung an den Holocaust in Gegenwart und Zukunft.

Die Erinnerungskultur und das Bewusstsein dafür seien in Deutschland zivilgesellschaftlich erkämpft worden, „deshalb sollten wir sie uns nicht schlechtreden oder nehmen lassen“, mahnte Heubner. Dazu bedürfe es auch gewisser Rituale, um die Menschen an das Sujet heranzuführen, argumentierte er und wandte sich damit gegen den derzeit häufig geäußerten Vorwurf einer „ritualisierten“ Erinnerungskultur. Allerdings müsse der „Staffelstab“ nun an die jüngeren Generationen übergeben werden, wie er in Anlehnung an den Holocaust-Überlebenden und Präsidenten des Internationalen Auschwitz Komitees, Marian Turski, beschrieb; es sei nun an ihnen, die Erinnerungsarbeit fortzusetzen. Diese stehe jedoch angesichts des Krieges in der Ukraine und im Nahen Osten sowie des Erstarkens einer neuen politischen Rechten vor einer enormen Herausforderung. Insbesondere das seit vielen Jahren thematisierte und leider immer näher rückende Ende der Zeitzeug:innenschaft markiere eine Zäsur, denn die Überlebenden hätten mit ihrer „Zartheit“ und „Freundlichkeit“ lange Zeit entscheidend zum Dialog und zur Erinnerungskultur in der deutschen Nachkriegsgesellschaft beigetragen, erklärte Heubner, und schon bald „sind wir allein“. Gerhard Merz ergänzte, dass auch die unersetzliche „Aura“ der Überlebenden verloren gehe, die bisher in pädagogischen Kontexten von unschätzbarem Wert gewesen sei.

Beide waren sich einig, dass insbesondere die Literatur ein wesentliches Medium sein wird, um das Vermächtnis der Zeitzeug:innen auch in Zukunft zu bewahren. Sie könne, so Merz, die „abstrakte“ Erinnerung in individuelle Lebensgeschichten auflösen. Besonders deutlich wurde dies in den drei Auszügen aus Heubners Erzählbänden, die er dem Publikum vorlas. In „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“ (2019), „Durch die Knochen bis ins Herz“ (2021) und „Als wir die Maikäfer waren“ (2023), alle erschienen im Göttinger Steidl-Verlag, erzählt Christoph Heubner aus der Ich-Perspektive – sich seiner Sprecherrolle aber mehr als bewusst – von jenen Menschen, die Auschwitz überlebt haben und denen er durch seine Tätigkeiten etwa im Rahmen der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und der Internationalen Jugendbegegnungsstätte mit der Gedenkstätte Auschwitz lange Zeit freundschaftlich verbunden war. Er selbst habe wohl mit der Idee gerungen, die Geschichten auf diese Weise aufzuschreiben; erst die Anregung der französischen Überlebenden Simone Veil habe ihn dazu bewogen, dies zu tun. Sie hatte Heubner 2008 mit auf den Weg gegeben: „Ihr müsst unsere Geschichten weiterschreiben, ihr müsst euch die Fakten und unsere Erinnerungen aneignen und künstlerische Wege finden, unseren Emotionen eure Emotionen hinzuzufügen.“ Es sei eine zentrale Aufgabe, die Geschichten der Opfer weiterzuerzählen, um ihnen ihren Namen zurückzugeben, resümierte Merz. Bei der Auseinandersetzung sei es aber besonders wichtig, nicht auf der Gefühlsebene verhaftet zu bleiben, sondern die Erinnerungen durch Fakten zu ergänzen – das eine sei ohne das andere nicht denkbar, um ein umfassendes Verständnis zu ermöglichen, so Heubner.

In der anschließenden Diskussion wurde dieses Spannungsfeld zwischen Wissen und Empfindungen weiter vertieft. Prof. Dr. Sascha Feuchert sprach von der Herausforderung der Erinnerungskultur, dass sich gerade in der Schule viele Menschen – trotz empirisch belegter Wissenslücken – vom Thema Holocaust übersättigt fühlten. Deshalb sei es besonders wichtig, junge Menschen sowohl über Fakten als auch Emotionen einen Zugang zum Thema zu ermöglichen. Ein Weg könne sein, Leerstellen und weiße Flecken in der eigenen Familiengeschichte zu identifizieren und zu hinterfragen. Es brauche daher „eine Erinnerungskultur, die zu Hause beginnt. [...] Vor der eigenen Haustür, vor der Schulhoftür, vor dem eigenen Bahnhof“, denn dort gebe es noch „so unendlich viel aufzuarbeiten und zu benennen“, betonte Heubner am Ende der anregenden aber auch nachdenklich stimmenden Veranstaltung.

Wir bedanken uns bei allen Beteiligten und Gästen für den spannenden Abend!


Sowohl der Gießener Anzeiger als auch die Gießener Allgemeine haben die Veranstaltung in Artikeln besprochen. Am 29. November 2023 ist unter dem Titel „Welche Zukunft hat Erinnerung?“ ein ausführlicher Artikel zur Veranstaltung von Antje Cordes in der Gießener Allgemeinen Zeitung erschienen. Zum Beitrag gelangen Sie hier. Die Besprechung von Emma Kremer im Gießener Anzeiger finden Sie unter dem Titel „Die Zukunft der Erinnerung“ hier.


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Arbeitsstelle Holocaustliteratur
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