„Hier und heute endet mein Besuch bei Ihnen“, richtete sich der 92-Jährige an die rund 150 Zuhörer:innen, die am 30. Oktober auf Einladung der Arbeitsstelle Holocaustliteratur und der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung in den Abraham-Bar-Menachem-Hörsaal der Justus-Liebig-Universität Gießen gekommen waren. Es war der wohl letzte öffentliche Auftritt des Holocaust-Zeitzeugen Ivar Buterfas-Frankenthal in der Universitätsstadt. Begleitet wurde er von seiner Frau Dagmar Frankenthal, mit der er seit fast 70 Jahren verheiratet ist, sowie seinem Vertrauten und Assistenten Carl-Heinz Rohloff.
Seit mehr als vier Jahrzehnten widmen sich Ivar und seine Frau Dagmar der Erinnerungsarbeit und engagieren sich unermüdlich gegen Populismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, betonte Anika Binsch (AHL) in ihrer Begrüßung. Gerade in der heutigen krisengeschüttelten Zeit, in der man leicht die Hoffnung verliere, zeige das Ehepaar auf diese Weise, dass es den Glauben an die Gesellschaft nicht verloren habe und dass man nicht vorschnell resignieren dürfe, ergänzte Felix Münch (Hessische Landeszentrale für politische Bildung).
In mehreren Büchern und weit über 1.700 Vorträgen hat Buterfas-Frankenthal bereits aus seinem Leben erzählt und an die Schrecken der NS-Herrschaft erinnert: Nur zwei Wochen vor Adolf Hitlers Machtantritt, am 16. Januar 1933, wurde er in eine Artistenfamilie geboren. Mit sieben Geschwistern wuchs er in Hamburg auf. Sein jüdischer Vater wurde jedoch bereits im selben Jahr in das norddeutsche Lager Esterwegen und später in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert. Die christliche Mutter blieb mit der Familie zurück, sie wurden in ein sogenanntes „Judenhaus“ umgesiedelt. Auch Dagmar Frankenthals Mutter war Christin, ihr Vater jüdischer Arzt. Die Mutter ließ sich auf Druck der Nationalsozialisten heimlich von ihm scheiden, als er auf einem Kongress in Amerika war. Bei seiner Rückkehr wurde er verhaftet und später im Konzentrationslager Buchenwald ermordet.
Als Sohn einer Mutter christlichen Glaubens und eines jüdischen Vaters galt Ivar Buterfas-Frankenthal als „Halbjude“. Doch der kleine Ivar verstand damals von alledem nicht viel – bis er im Herbst 1938, kurz nach seiner Einschulung in die Grundschule Hamburg-Horn, vom Direktor beschimpft und der Schule verwiesen wurde. „Ich durfte nur sechs Wochen lang zur Schule gehen“, erzählte er. Unter dem Gespött seiner Mitschüler verließ er den Schulhof. Auf dem Heimweg lauerten dem damals erst Fünfjährigen mehrere Hitlerjungen auf, schlugen ihn und drohten sogar, ihn anzuzünden, bis schließlich Passanten einschritten und ihn aus der Situation befreiten. Vor allem dieses Kindheitserlebnis verfolgt Ivar seit über 80 Jahren: „Irgendein Albtraum erwischt mich immer.“
1942 entging die Familie knapp der Deportation. Sie floh in den Osten, nur um später nach Hamburg zurückzukehren. Hier überlebten sie Krieg und Verfolgung in einem Kellerloch. Die Schikanen gegen die Familie Buterfas gingen jedoch nach dem Krieg weiter: Wie seine Geschwister erhielt Ivar, von den Nationalsozialisten zum Staatenlosen erklärt, nur einen Fremdenpass. Erst im Jahr 1964 bekam Buterfas-Frankenthal die deutsche Staatsangehörigkeit wieder.
Jahrzehnte später aber lassen ihn seine Erlebnisse zum Mahner gegen Unmenschlichkeit und gegen das Vergessen werden: „Ich habe alles verziehen, was man mir und meinen Geschwistern angetan hat, aber ich habe nichts vergessen.“ So hat es sich Ivar Buterfas-Frankenthal zur Lebensaufgabe gemacht, jungen Menschen von seinem Leben und von der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten zu berichten. Für seine unermüdliche Arbeit als Zeitzeuge über nunmehr vier Jahrzehnte und sein Engagement für die Gedenkstätte Sandbostel sowie für die Hamburger Nikolaikirche wurde er vielfach geehrt. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes Erster Klasse und des Weltfriedenspreises.
Im Anschluss an die Schilderungen von Buterfas-Frankenthal hatte das Publikum die Möglichkeit, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Auf die Frage einer Zuhörerin, woher er nach all dem, was ihm widerfahren sei, seine Kraft nehme, antwortete er, dass es ihm wichtig sei, vor allem jungen Menschen immer wieder von seinen Erlebnissen im Holocaust zu erzählen, damit diese nicht in Vergessenheit gerieten und vor allem, damit sich so etwas nicht wiederhole. Dieser Kontakt zu den nachwachsenden Generationen und vor allem die Aufmerksamkeit, die ihm die jungen Menschen bei seinen Veranstaltungen entgegenbringen, ehre ihn sehr: „Dann weiß ich, dass das, was ich erzählt habe, angekommen ist.“
Immer wieder mahnte Buterfas-Frankenthal, sich das Gehörte zu Herzen zu nehmen. „Es ist heute auf unseren Straßen in Deutschland wieder sehr, sehr unruhig“, sagte er – auch mit Blick auf das antisemitische Attentat in Halle, den Mord an Walter Lübcke und das Erstarken einer in Teilen rechtsextremen Partei in Deutschland. Deshalb sei es wichtig, die Demokratie zu verteidigen und für sie einzustehen. „Wir wollen nicht mehr dulden, dass es auch nur eine einzige Möglichkeit gibt, unsere einzigartige Demokratie, die wir in Deutschland haben, gefährden zu lassen. Nie wieder dürfen sich diese Dinge entwickeln, die wir hinter uns haben“, erklärte er und appellierte: „Wir lassen uns unsere Demokratie nicht nehmen!“ Die Zuschauer:innen, die sich daraufhin von ihren Plätzen erhoben, spendeten dem Ehepaar einen langanhaltenden Applaus. Nach dem Gespräch konnten die Zuhörer:innen das Buch „Von ganz, ganz unten“ (2023), in dem Buterfas-Frankenthal und seine Frau ihre Lebensgeschichte erzählen, erwerben und signieren lassen.
An dieser Stelle sei der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich sowie der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung herzlich gedankt, die den Besuch des Ehepaars Buterfas-Frankenthal finanziell unterstützt und ermöglicht haben.
Ein Videomitschnitt des Gesprächs wird im Archiv der Arbeitsstelle Holocaustliteratur aufbewahrt. Dem Hochschulrechenzentrum der Justus-Liebig-Universität Gießen danken wir für die Unterstützung bei der Erstellung der Aufnahmen.
Über die Veranstaltung wurde auch ausführlich in den lokalen Printmedien berichtet. Zum vollständigen Beitrag der Gießener Allgemeine von Sarah Volk mit dem Titel „Eine Stimme für Opfer des Holocaust“ gelangen Sie hier. Die Besprechung von Björn Gauges im Gießener Anzeiger finden Sie unter dem Titel „Zeitzeuge appelliert in Gießen an junge Generation“ hier.