am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

"Auf der Suche nach Terror und Nervenkitzel"

23.06.2015

Martin B. Shichtman sprach auf Einladung der Arbeitsstelle Holocaustliteratur über das Phänomen des ‚Dark Tourism‘ am Beispiel der Wewelsburg

Die Wewelsburg im Kreis Paderborn ist, wie wenige andere Bauten in Deutschland, ein von verschiedenen Mythen geprägter Ort und Anziehungspunkt des sogenannten Dark Tourism – dem von Faszination und Sensationslust geprägten Tourismus an Schauplätzen von Massenmord, Terror, Gräuel und Katastrophen.  In dieser Hinsicht bietet die Anfang des 17. Jahrhunderts im gleichnamigen Ort erbaute Dreiecksburg Wewelsburg gleich mehrfach Anknüpfungspunkte. Als Ort, an dem sich Fakten, Mythen und Legenden um mittelalterliche Gralssuche, Hexenverfolgung und nationalsozialistischer Heldenkult ranken, ist er gleichsam für Neofaschisten, Anhänger der Gothic-Szene, Esoteriker und gewöhnliche Touristen Anlaufstelle und ideologische Projektionsfläche.

„Die Wewelsburg verspricht Terror und Nervenkitzel“, so Martin B. Shichtman, der auf Einladung der Arbeitsstelle Holocaustliteratur am 22. Juni über den dort beobachtbaren Sensationstourismus sprach. Shichtman ist Professor und Direktor für Jüdische Studien am Anglistik-Institut der Eastern Michigan University in Ypsilanti/USA.
Die Nationalsozialisten planten in der Wewelsburg bereits ab 1933 den Aufbau einer Schule für SS-Offiziere. Ab Kriegsbeginn sollte die Burg nach einer Umgestaltung unter der Leitung von Architekt Hermann Bartels zu der zentralen Versammlungsstätte für  SS-Gruppenführer werden und wurde ab 1940 in eine riesige Burganlage verwandelt. Um die laufenden und geplanten Bauarbeiten verwirklichen zu können, errichtete die SS im Mai 1939 das Konzentrationslager Niederhagen im Ort Wewelsburg. Tatsächlich wurden die hochtrabenden Pläne der Nationalsozialisten jedoch nie verwirklicht. 

Die Mythenbildung um das Bergschloss begann erst in den 1980er Jahren. Zahlreiche Bücher, Computerspiele und Filme – vor allem in den USA – haben zu diesem Phänomen massiv beigetragen oder es sogar erst hervorgerufen, wie Shichtman ausführt. So ist aus der Wewelsburg in neofaschistischer Phantasie nahezu eine nationalsozialistische Burg ‚Camelot‘ geworden, in der die SS mit mittelalterlichem Ritterkult verknüpft wird. 

Heute sind  auf dem Burggelände sowohl das Historische Museum des Hochstifts Paderborn als auch die Erinnerungs- und Gedenkstätte Wewelsburg 1933 - 1945 im ehemaligen SS-Wachgebäude am Burgvorplatz untergebracht. „‚Dark tourists‘ suchen dort jedoch keine Fakten oder Informationen, sondern Emotionen“, beschreibt Schichtman das Phänomen. Jenseits dessen, was sich an diesen Orten tatsächlich historisch ereignet habe, böte diese Möglichkeiten, die mit ihnen verbundenen Schrecken und Vorstellungen rein auf der Gefühlebene (nach) zu erleben und Phantasien über die Vergangenheit auszugestalten. So wird – je länger die Ereignisse zurückliegen – die Mythenbildung immer unabhängiger von den historischen Fakten und könnte diese schließlich sogar verdrängen, erläutert Schichtman.  „Diese Orte bekommen eine neue Identität, die nichts mit der Historie zu tun hat. Sie werden durch die Vorstellungen der ‚dunklen Touristen‘ verändert und zu gänzlich neuen Orten.“

Die Möglichkeiten, diesen Prozess zu kontrollieren oder wenigstens einzudämmen, sieht Shichtman eher skeptisch:  „Hier geht es um Phantasien und die sind sehr beharrlich“, erklärt er. Dennoch sei es wichtig, diese Orte durch eine klare inhaltliche Ausrichtung und Erinnerungspolitik zu stabilisieren, beendet er seine Ausführungen, an die sich eine ausführliche und lebhafte Diskussion anschloss.  


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Arbeitsstelle Holocaustliteratur
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