am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Ringelblum-Themenwoche: Achtteilige Posting-Reihe und exklusive Lesung aus der ersten deutschsprachigen Edition des Untergrund-Archivs des Warschauer Gettos

17.12.2024

Exklusive Lesung, bei der ausgewählte Auszüge aus einer Essaysammlung des Spiritus Rector des Untergrundarchivs, Emanuel Ringelblum, erstmals öffentlich vorgetragen werden, am 13. Dezember 2024, 14 bis 16 Uhr, im Hörsaal A1 des Philosophikum I der JLU Gießen (Otto-Behaghel-Straße 10, Haus A), alle Interessierten sind herzlich eingeladen, Eintritt frei 


(Quelle: ŻIH)

Vom 9. bis 18. Dezember stellt die Arbeitsstelle Holocaustliteratur (AHL) an der Justus-Liebig-Universität Gießen im Rahmen einer Themenwoche auf ihren Social-Media-Kanälen die erste deutschsprachige Edition des Untergrundarchivs des Warschauer Gettos vor, die derzeit in Zusammenarbeit mit dem Fritz Bauer Institut (Frankfurt) und dem Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte (München) sowie in enger Kooperation mit dem Warschauer Jüdischen Historischen Institut (ŻIH) erarbeitet wird. Herausgegeben wird diese erste deutschsprachige Edition von Dr. Markus Roth (Fritz-Bauer-Institut Frankfurt), Prof. Dr. Andrea Löw (Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München) und Prof. Dr. Sascha Feuchert (AHL | JLU) unter Mitarbeit von Aleksandra Bak-Zawalski (AHL | JLU). Eine exklusive Lesung, bei der ausgewählte Auszüge aus einer Essaysammlung des Spiritus Rector des Untergrundarchivs, Emanuel Ringelblum, erstmals öffentlich vorgetragen werden, bildet den Höhepunkt der Themenwoche, die von einer achtteiligen Posting-Reihe begleitet wird. Die Veranstaltung findet am 13. Dezember um 14 Uhr im Hörsaal A1 am Philosophikum I der JLU Gießen statt. Nach einer thematischen Einführung durch Prof. Dr. Sascha Feuchert (AHL | JLU) wird Dr. Roman Kurtz (Stadttheater Gießen) ausgewählte Auszüge aus den Essays vorlesen. Der Eintritt ist frei, alle Interessierten sind herzlich eingeladen.

Das Untergrundarchiv des Warschauer Gettos ist eines der bedeutendsten Zeugnisse des Holocaust und gehört heute zum UNESCO-Weltkulturerbe. Das Archiv wurde im Herbst 1940 auf Initiative des polnisch-jüdischen Historikers, Pädagogen und Sozialaktivisten Dr. Emanuel Ringelblum und mit Unterstützung der Widerstandsorganisation „Oneg Szabat“ gegründet. Die Chronistengruppe sammelte heimlich amtliche Dokumente und Bekanntmachungen, private Tagebücher und zahlreiche Alltagsquellen, um ihre Geschichte und die vieler anderer bereits während der Verfolgung und des Massenmordes für die Nachwelt zu dokumentieren. Ein zentraler Forschungsschwerpunkt der Arbeitsstelle Holocaustliteratur lag in den vergangenen drei Jahren auf der Erschließung, Übersetzung und Kontextualisierung von Dokumenten aus dieser wertvollen Sammlung.

Eine Veranstaltung der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität Gießen mit freundlicher Unterstützung der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich

(Quelle: ŻIH)
(Quelle: ŻIH)


Teil 1: Das Ringelblum-Archiv

Diese außergewöhnliche historische Sammlung besteht aus zwei Teilen, die im Warschauer Getto verborgen wurden. Der erste Teil wurde am 18. September 1946 in zehn Metallkisten entdeckt, während der zweite Teil des Ringelblum-Archivs am 1. Dezember 1950 in Milchkannen gefunden wurde. 


(Quelle: ŻIH)
(Quelle: ŻIH)

Das gesamte erhaltene Archiv umfasst mehrere tausend Dokumente (Manuskripte, Drucke, Fotografien), die insgesamt mehr als 28.000 Blatt zählen. Das Ringelblum-Archiv befindet sich heute im Bestand des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau.


(Emanuel Ringelblum (Erster von links) mit einer Gruppe von Freunden aus der Studentenorganisation „Cherut” [hebr. Freiheit], ca. 1919. Quelle: Gedenkbuch von Nowy Sącz, ŻIH-Bibliothek)
(Emanuel Ringelblum (Erster von links) mit einer Gruppe von Freunden aus der Studentenorganisation „Cherut” [hebr. Freiheit], ca. 1919. Quelle: Gedenkbuch von Nowy Sącz, ŻIH-Bibliothek)


Teil 2: Emanuel Ringelblum

Emanuel Ringelblum wurde im Jahr 1900 in Buczacz geboren. 1922 nahm er sein Studium an der Universität Warschau auf, wo er 1927 mit einer Dissertation zur Geschichte der Warschauer Juden promoviert wurde. Er war nicht nur als Geschichtslehrer tätig und engagierte sich in zahlreichen Arbeitskreisen sowie Forschungsinstituten, sondern leistete auch bedeutende Beiträge zur Erforschung der Geschichte der Juden in Polen.

Nach Kriegsausbruch engagierte er sich in der Flüchtlingshilfe und im Widerstand. 1940 wurde er ins Warschauer Getto gebracht, wo er 1942 versuchte, den Deportationen der „Großen Aktion“ zu entgehen, indem er in einer Schreinerei arbeitete. Die Flucht aus dem Getto gelang ihm 1943 und er versteckte sich einige Zeit in einem Warschauer Bunker. Nach der Entdeckung des Verstecks wurde er erschossen.


(Quelle: ŻIH)
(Quelle: ŻIH)


Teil 3: Das Warschauer Getto 

Das Warschauer Getto wurde am 2. Oktober 1940 durch die deutschen Besatzungsbehörden und ihre Helfer vor allem für die jüdische Bevölkerung Warschaus formell eingerichtet und am 16. November desselben Jahres abgeriegelt und vom restlichen Stadtgebiet isoliert. Es war das größte Getto im besetzten Europa, in dem zeitweise mehr als 400.000 Menschen unter katastrophalen Bedingungen auf engstem Raum leben mussten. Im Mai 1943, nach der gewaltsamen Niederschlagung des jüdischen Aufstands im Warschauer Getto, wurde es von deutschen Truppen vollständig „liquidiert“. Die überlebenden Gettobewohnerinnen und -bewohner wurden größtenteils in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert.


„Der Schabbattag, an dem das Getto eingeführt wurde (der 16. Nov[ember]), war schrecklich, Menschen wussten nicht, dass man das Getto schließen wird, deshalb war diese Nachricht für alle wie ein Donner aus heiterem Himmel. [...] Es stellte sich heraus, dass die Markthallen für jüdische Frauen geschlossen sind. Sofort fehlte das Brot und andere Lebensmittel. Seitdem ist alles wahnsinnig überteuert. [...] Eine Welle der Grausamkeit in der ganzen Stadt, als ob sie aufgrund eines Zeichens von oben ausgebrochen wäre. [...] Die Unruhe in der jüdischen Bevölkerung ist riesig. Niemand weiß, ob er morgen in seinem Bett wieder einschlafen kann. Im Süden der Hauptstadt sitzen Menschen den ganzen Tag zu Hause; sie erwarten jederzeit den Moment, an dem sie kommen und sie vertreiben.”

Auszug aus Archivum Ringelbluma. Konspiracyjne Archiwum Getta Warszawy. Pisma Emanuela Ringelbluma z getta. Bd. 29. Warschau 2018: ŻIH.

(Quelle: ŻIH)
(Quelle: ŻIH)


Teil 4: Die Widerstandsgruppe „Oneg Schabbat“

Die Tätigkeit der Widerstandsgruppe „Oneg Schabbat“ bestand in der sorgfältigen und umfassenden Dokumentation des Schicksals der Jüdinnen und Juden unter der deutschen Besatzung, ihrer Verfolgung und Vernichtung. Sie stellte damit eine der bedeutendsten Formen des zivilen und intellektuellen Widerstands im Warschauer Getto dar. Gegründet wurde sie von mehreren Dutzend jüdischen Schriftsteller:innen, Journalist:innen, Lehrern, Wissenschaftlern und sozialen Aktivist:innen.


„[…] das Gettoarchiv [wurde] durch die Gruppe „Oneg Schabbat“ gegründet. Dieser seltsame Name hat seinen Ursprung darin, dass die Beratungen dieser Gruppe am Samstag stattfanden – daher wurde die gesamte Initiative aus Gründen der Geheimhaltung „Oneg Schabbat“ genannt. Die ersten Grundlagen für das Archiv legte ich [Emanuel Ringelblum] im Oktober 1939. Die Atmosphäre in Warschau war damals sehr deprimierend. Jeder Tag brachte neue Restriktionen gegenüber den Juden mit sich. Man fürchtete sich vor politischer Unterdrückung, zitterte vor entsprechenden Durchsuchungen.“ 

Auszug aus Archivum Ringelbluma. Konspiracyjne Archiwum Getta Warszawy. Pisma Emanuela Ringelbluma z getta. Bd. 29. Warschau 2018: ŻIH.

(Quelle: Heinrich Jöst, ŻIH)
(Quelle: Heinrich Jöst, ŻIH)

Teil 5: Das (Über)Leben im Warschauer Getto

Das Leben im Getto war von Beginn an durch Einschränkungen und Begrenzungen geprägt. Mit der Zeit verschärften sich die Zustände drastisch: Hunger, Krankheiten und Tod prägten den Alltag der Menschen. Das Ringelblum-Archiv beschreibt das Phänomen des Schmuggels und der weitverbreiteten Bestechung, widmet aber auch den Krankheiten und dem Problem des schrecklichen Hungers, der oft eine Folge der sozialen Ungleichheit war, viel Raum.


„Es herrscht ein so großer Hunger, dass die Armen den bedauernswerten Brotverkäufern Brot entreißen. Sie reißen das Brot sofort in zwei Stücke und beißen es an. Ein solches Brot kann nicht mehr verkauft werden. [...] Fast jeden Tag sehe ich zwei, drei Menschen, die mitten auf der Straße vor Hunger umfallen. [...] Die jüdischen Ärzte und Professoren – auch an solchen fehlt es hier nicht – betreiben wissenschaftliche Forschungen. Eines der interessantesten Themen ist der Hunger, denn er ist die am meisten verbreitete Gettokrankheit. Für die gibt es einen Rat: Die Deutschen sollten Polen verlassen. [In Łódź] entdeckte ein berühmter jüdischer Professor aus Prag, dass Kartoffeln das beste Mittel gegen Hungerschwellungen sind, es ist jedoch schwierig, sie zu bekommen.”

Auszug aus Archivum Ringelbluma. Konspiracyjne Archiwum Getta Warszawy. Pisma Emanuela Ringelbluma z getta. Bd. 29. Warschau 2018: ŻIH.

Im Warschauer Getto herrschten äußerst prekäre hygienische Bedingungen, die wiederholt zu schweren Typhusausbrüchen führten. Die deutschen Besatzer betrachteten diese Krankheit mit besonderer Sorge, da sie eine Ausbreitung der Ansteckung über das Gettogebiet hinaus befürchteten. Zwangsdesinfektionen, auch „Dampfbäder“ genannt, sollten dem entgegenwirken, waren aber vor allem eine weitere Methode, mit der die Menschen im Getto gequält wurden. Viele versuchten, sich durch Bestechung von diesen „Dampfbädern” freizukaufen. In der Praxis hatten diese Maßnahmen jedoch kaum Einfluss auf die Bekämpfung der Epidemie. Stattdessen führten sie zu einer weitverbreiteten Korruption, die von den beteiligten Funktionären bewusst einkalkuliert und gefördert wurde.

„Ich hörte von einer Drohung, dass das Getto geschlossen wird, wenn der Typhus sich ausbreitet. [...] Vor Typhus gewarnt wird [mit] riesigen Plakaten mit einem „Stürmer”-Juden und der Aufschrift: „Juden – Läuse – Flecktyphus”. Auf dem Bild kriecht eine große Laus aus dem Bart des Juden. Die Plakate hingen auch in arischen Straßenbahnen. [...] In allen Häusern wurde eine Hygieneinspektion durchgeführt, um zu überprüfen, ob sich die Typhuskranken dort versteckt hatten. Es wurde festgestellt, dass es keine Kranken gab. Im arischen Teil Warschaus kommt es jeden Tag zu neuen Typhusfällen, obwohl es dort keine Juden mehr gibt. Die ganze Theorie, dass Juden Typhusträger sind, ist also nutzlos. [...] Wenn man einen Deutschen mit zweitausend Zɫoty schmiert, kann man das Haus vom Dampfbad befreien. [...] Während eines Dampfbads wird alles zerstört.”

Auszug aus Archivum Ringelbluma. Konspiracyjne Archiwum Getta Warszawy. Pisma Emanuela Ringelbluma z getta. Bd. 29. Warschau 2018: ŻIH.

(Quelle: ŻIH)
(Quelle: ŻIH)

Teil 6: Kinder im Getto

Im Warschauer Getto waren insgesamt etwa 500.000 Menschen zusammengepfercht, darunter viele Kinder verschiedener Altersgruppen, die rund ein Viertel der Gettobevölkerung ausmachten. Ihre Versorgung und Betreuung stellte eine der größten Herausforderungen dar: Viele Kinder waren Waisen, litten an Hunger und Erschöpfung und wurden brutal aus ihrem gewohnten Familien- und Schulleben gerissen. Die Sorge um das Wohlergehen der Kinder wurde zu einem zentralen Anliegen und führte zu einer der wichtigsten Ausdrucksformen des zivilen Widerstands im Getto.


(Quelle: ŻIH)
(Quelle: ŻIH)

Es entstanden Untergrundschulen und Hilfsnetzwerke, in denen Gelehrte und Lehrer:innen versuchten, den Kindern trotz ihres eigenen Hungers und der Gefahr von Krankheiten eine Bildung zu ermöglichen. Sie kämpften gegen den Mangel an Büchern, Heften und anderen Unterrichtsmaterialien und passten ihre Lehrmethoden den schwierigen Bedingungen an, die es zuvor nie gegeben hatte.


„Das Kind hört auf, Kind zu sein. Unter schwierigen Bedingungen muss es nicht nur für sich, sondern auch für seine Familie sorgen. Es arbeitet, schleppt Schmuggelware oder bettelt. Sein Hauptinteresse und dominierendes Ziel: Brot. Alles andere, was letztlich kein Brot bringt, kann sein Interesse nicht wecken. Ins Kinderheim kommt er wegen des Brotes, dann muss er etwas verdienen, um sich und seine Familie zu ernähren. [...] Das jüdische Schulwesen wurde vollständig abgeschafft. Die meisten Lehrer mussten Arbeit außerhalb Warschaus suchen und auf die andere Seite auswandern. [...] Die Schulen sind geschlossen, so dass man einen Ausweg sucht, den Unterricht zu organisieren. Dieser findet dann in den Wohnungen der Lehrer statt. [...] In dutzenden Häusern befinden sich Bibliotheken mit jüdischen und polnischen Büchern.”

Auszug aus Archivum Ringelbluma. Konspiracyjne Archiwum Getta Warszawy. Pisma Emanuela Ringelbluma z getta. Bd. 29. Warschau 2018: ŻIH.

(Quelle: ŻIH)
(Quelle: ŻIH)

 

Teil 7: Das Vermächtnis von Oneg Schabbat

„Jetzt können wir in Ruhe sterben. Wir haben unsere Mission erfüllt.”

Diese Zeilen wurde vermutlich einen Tag vor dem Vergraben des Archivs geschrieben, in der Hoffnung, dass die „Flasche, die aus dem sinkenden Schiff geworfen wurde” – wie Historiker das Archiv von Emanuel Ringelblum nennen – nach dem Krieg gefunden würde. Doch die meisten Mitglieder des geheimen Archivs, darunter Ringelblum selbst, überlebten nicht.

Die von ihnen akribisch zusammengetragenen und in verschiedenen Metallbehältern versteckten Dokumente blieben jedoch, obwohl sie mehrere Jahre unter der Erde lagen, größtenteils erhalten. Wenn auch nicht alle Dokumente gefunden werden konnten, so wurde doch ein großer Teil nach Kriegsende aus den Ruinen des Warschauer Ghettos geborgen. Heute werden sie im Jüdischen Historischen Institut in Warschau verwahrt.

Jenes Untergrundarchiv des im Mai 1943 aufgelösten Warschauer Gettos, das als Weltkulturerbe in die UNESCO-Liste „Memory of the World” aufgenommen wurde, ist bis heute eine einzigartige Sammlung und gehört zweifellos zu den wichtigsten

Zeugnissen über und aus dem Holocaust.


„Menschen hatten damals Angst zu schreiben, weil sie mit einer Durchsuchung rechnen mussten. Mit der Zeit beruhigten sie sich wieder. Der Terror wuchs stetig, betraf aber – wie ich bereits erwähnte – ganze Gruppen, Schichten. Was der Jude bei sich zu Hause machte, interessierte die Deutschen nicht. Also hat der Jude angefangen zu schreiben. [...] Es wurde sehr viel geschrieben. Die überwiegende Mehrheit wurde jedoch infolge der Vernichtung der Warschauer Juden während der Aussiedlung zerstört. Nur das, was von „O[neg] Sch[abat]” aufbewahrt wird, blieb erhalten. [...] Wir haben danach gestrebt, dass der Lauf der Ereignisse in jeder Stadt, die Erlebnisse jedes Einzelnen [...] so einfach und realitätsgetreu wie möglich beschrieben werden. Jedes überflüssige Wort, jede literarische Färbung oder Verschönerung klingt fremd und erregt Widerwillen. Das jüdische Leben während dieses Krieges ist so reich an Tragödien, dass es nicht notwendig ist, es mit überflüssigen Worten auszuschmücken. [...] Jeder Mitarbeiter von „O[neg] Sch[abat]” wusste, dass sein Kampf und die Qualen, seine harte Arbeit und sein Leiden, das Risiko, 24 Stunden am Tag durch seine illegale Arbeit, die daraus bestand, Materialien von einem Ort zum anderen Ort zu bringen – dass all das im Namen einer höheren Idee geschah. Das alles wird am Tag der Freiheit von der Gesellschaft mit den höchsten Aufzeichnungen, die es im freien Europa geben wird, gewürdigt und belohnt werden. ‚O[neg] Sch[abbat]’ war eine Bruderschaft, ein Orden von Brüdern, die auf ihre Fahnen die Opferbereitschaft, die Treue zu sich selbst und zu ihrem Dienst schrieb.”

Auszug aus Archivum Ringelbluma. Konspiracyjne Archiwum Getta Warszawy. Pisma Emanuela Ringelbluma z getta. Bd. 29. Warschau 2018: ŻIH.


 


(Dr. Roman Kurtz, Foto: Karolin Kreyling)

Teil 8: Bericht zur exklusiven Lesung aus der ersten deutschsprachigen Edition des Untergrund-Archivs

Vom 9. bis 18. Dezember 2024 widmete sich die Arbeitsstelle Holocaustliteratur der Justus-Liebig-Universität Gießen in verschiedenen Formaten dem Untergrundarchiv des Warschauer Gettos sowie dessen Begründer, Dr. Emanuel Ringelblum. Höhepunkt der Themenwoche, die von einer achtteiligen Beitragsreihe auf den Social-Media-Kanälen der AHL begleitet wurde, war eine exklusive Lesung am 13. Dezember im Philosophikum I der JLU, bei der erstmals Auszüge aus der noch unveröffentlichten deutschen Ausgabe von Ringelblums Tagebuch und Essays präsentiert wurden. Die Ausgabe, deren Erscheinen für 2025 geplant ist, bildet den Auftakt zu einer ersten deutschsprachigen Auswahl-Edition des sogenannten Ringelblum-Archivs, die derzeit an der Arbeitsstelle Holocaustliteratur in Kooperation mit dem Fritz Bauer Institut (Frankfurt) und dem Zentrum für Holocaust-Studien (München) erarbeitet wird. An der Veranstaltung, die im Rahmen der Vorlesung „Holocaust- und Lagerliteratur: Theorie – Geschichte – Didaktik“ von Prof. Sascha Feuchert stattfand, nahmen neben zahlreichen Gasthörer:innen auch Lehramtsstudierende sowie Studierende des Masterschwerpunkts „Holocaust- und Lagerliteratur“ der JLU Gießen teil. 

Die Geschichte des Untergrundarchivs sei untrennbar mit jener des Warschauer Gettos verbunden, erklärte Prof. Sascha Feuchert in seinem Vortrag zu Beginn der Lesung. Nach dem Überfall auf Polen richtete die deutsche Besatzungsmacht 1940 im Zentrum Warschaus ein Getto ein, das zum größten seiner Art auf besetztem Gebiet werden sollte. Unter katastrophalen Bedingungen lebten dort bis zu 500.000 Menschen, darunter vor allem Jüdinnen und Juden aus Warschau und weiteren polnischen Regionen sowie jüdische Deportierte aus Deutschland und den besetzten Ländern. 

Inmitten der bedrückenden Enge des Gettos formierte sich unter der Leitung des Historikers Dr. Emanuel Ringelblum alsbald eine Chronistengruppe namens „Oneg Schabbat“, die das jüdische Leben und Sterben in der Zwangsgemeinschaft des Gettos zu dokumentieren suchte. Unter Einsatz ihres Lebens trugen die etwa 60 Mitglieder im Geheimen eine beeindruckende Fülle von Dokumenten zusammen, darunter öffentliche Akten, Plakate, Zeitschriften, Flugblätter, Eintrittskarten, Lebensmittelmarken, persönliche Briefe und private Tagebücher. Als zunehmend offenbar wurde, wohin die Politik der Nationalsozialisten führen würde und Berichte über den Mord an den polnischen Jüdinnen und Juden in das Getto drangen, konzentrierten die Mitglieder des Archivs ihre Arbeit darauf, Beweise für die Verbrechen der Nationalsozialisten zu sichern, nicht zuletzt, um ihre Geschichte und die vieler anderer für die Nachwelt festzuhalten. Das Oneg Schabbat-Archiv war damit „einer der ersten Versuche, den von den Deutschen verübten Massenmord zeitgleich und unmittelbar zu dokumentieren”, betonte Feuchert.  

Das Anliegen der Chronistengruppe ging jedoch noch über die Dokumentation des Gettoalltags hinaus. Sie wollte auch das Leben der Jüdinnen und Juden vor dem Krieg, die Zerstörung der jüdischen Gemeinden durch die Deutschen und die kurzlebigen Provinzgettos dokumentiert wissen. In diesem Zusammenhang entstand auch Ringelblums Essaysammlung „Über polnisch-jüdische Beziehungen“, aus dessen bisher unveröffentlichter deutscher Erstausgabe der renommierte Schauspieler Dr. Roman Kurtz (Stadttheater Gießen) anschließend Auszüge vortrug. Nüchtern beschreibt Ringelblum darin den Alltag unter prekären Lebensbedingungen im Warschauer Getto, den florierenden Schmuggel, der das Überleben vieler Bewohner:innen überhaupt erst ermöglichte, und die verheerenden Folgen des Massenmords. Vor allem aber kommt darin sein ambivalentes Verhältnis zu den eigenen Landsleuten zum Ausdruck: Einerseits schildert er den tief verwurzelten Antijudaismus der polnischen Gesellschaft, der sich unter der deutschen Besatzung noch verschärfte und die Kollaboration mancher Polinnen und Polen, insbesondere der sogenannten polnischen Blauen Polizei, mit den Besatzern begünstigte. Andererseits würdigt der promovierte Historiker, der zeitlebens eine dezidiert jüdische Forschung profilierte, auch die mutigen Handlungen der polnischen Helfer:innen, die unter Lebensgefahr ihre jüdischen Mitbürger:innen unterstützten. Ringelblum selbst schrieb die Worte, die Kurtz vorlas, in seinem Versteck bei einer polnischen Familie, bevor er im März 1944 entdeckt und erschossen wurde. Wie die meisten anderen Mitglieder des Oneg Schabbat überlebte er den Holocaust nicht. 

Doch dank der klugen Weitsicht der Geheimgruppe, die alle bis dahin gesammelten Materialien in Metallkisten und Milchkannen in unterirdischen Verstecken vergrub, als sie das Ende der Getto-Existenz ahnten, überstand das Archiv in weiten Teilen die Zerstörung des Warschauer Gettos infolge des jüdischen Widerstands im Getto im April 1943, der „unglaubliche 28 Tage lang dauerte”, so Feuchert, und konnte nach dem Krieg aus den Ruinen geborgen werden. Insgesamt wurden etwa 35.000 Dokumente gerettet, die heute im Jüdischen Historischen Institut in Warschau aufbewahrt werden. 

Inzwischen werde das Ringelblum-Archiv in der Forschung breit wahrgenommen, konstatierte Feuchert. Doch während der Großteil der Dokumente bereits in polnischer Sprache erfasst und in über 30 Bänden ediert wurde, fehle eine deutsche Edition bislang. Gefördert durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur, entsteht seit 2021 an der Arbeitsstelle Holocaustliteratur in Kooperation mit dem Fritz Bauer Institut, dem Zentrum für Holocaust-Studien am Leibniz-Institut für Zeitgeschichte und dem Jüdischen Historischen Institut Warschau eine solche Auswahl-Edition, um diese zentrale Quelle erstmals einem deutschsprachigen Lesepublikum zugänglich zu machen. Herausgegeben wird sie von Dr. Markus Roth (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut), Prof. Andrea Löw (Stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien) und Prof. Sascha Feuchert unter Mitarbeit von Aleksandra Bak-Zawalski (beide AHL). Als Vorstudie zu diesem umfangreichen Editionsprojekt werden im kommenden Jahr das private Tagebuch Emanuel Ringelblums sowie seine Essays zu den polnisch-jüdischen Beziehungen erscheinen. 

Im Nachgespräch unterstrich Feuchert noch einmal die Bedeutung des historisch einmaligen Archivs: Es sei ein einzigartiges Beispiel für jüdische Selbstbehauptung und zivilen Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Denn aus dem „Mut der völligen Verzweiflung“ setzten die Chronisten „ein Geschichtszeichen“, so Feuchert, indem sie nämlich ihre eigene Geschichte nicht schreiben ließen, sondern selbst schrieben. Damit schufen sie ein einzigartiges Vermächtnis, das heute als eine der bedeutendsten Quellensammlungen aus dem Holocaust gilt und zum Weltdokumentenerbe der UNESCO gehört. 

Sowohl die Gießener Allgemeine Zeitung als auch der Gießener Anzeiger veröffentlichten ebenfalls Berichte über die „außergewöhnliche Lesung”. Zum Beitrag von Albert Mehl, der unter dem Titel „Das Ringelblum-Vermächtnis“ im Gießener Anzeiger erschienen ist, gelangen Sie hier. Die Besprechung von Sascha Jouini in der Gießener Allgemeine Zeitung finden Sie hier


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