Teil 8: Bericht zur exklusiven Lesung aus der ersten deutschsprachigen Edition des Untergrund-Archivs
Vom 9. bis 18. Dezember 2024 widmete sich die Arbeitsstelle Holocaustliteratur der Justus-Liebig-Universität Gießen in verschiedenen Formaten dem Untergrundarchiv des Warschauer Gettos sowie dessen Begründer, Dr. Emanuel Ringelblum. Höhepunkt der Themenwoche, die von einer achtteiligen Beitragsreihe auf den Social-Media-Kanälen der AHL begleitet wurde, war eine exklusive Lesung am 13. Dezember im Philosophikum I der JLU, bei der erstmals Auszüge aus der noch unveröffentlichten deutschen Ausgabe von Ringelblums Tagebuch und Essays präsentiert wurden. Die Ausgabe, deren Erscheinen für 2025 geplant ist, bildet den Auftakt zu einer ersten deutschsprachigen Auswahl-Edition des sogenannten Ringelblum-Archivs, die derzeit an der Arbeitsstelle Holocaustliteratur in Kooperation mit dem Fritz Bauer Institut (Frankfurt) und dem Zentrum für Holocaust-Studien (München) erarbeitet wird. An der Veranstaltung, die im Rahmen der Vorlesung „Holocaust- und Lagerliteratur: Theorie – Geschichte – Didaktik“ von Prof. Sascha Feuchert stattfand, nahmen neben zahlreichen Gasthörer:innen auch Lehramtsstudierende sowie Studierende des Masterschwerpunkts „Holocaust- und Lagerliteratur“ der JLU Gießen teil.
Die Geschichte des Untergrundarchivs sei untrennbar mit jener des Warschauer Gettos verbunden, erklärte Prof. Sascha Feuchert in seinem Vortrag zu Beginn der Lesung. Nach dem Überfall auf Polen richtete die deutsche Besatzungsmacht 1940 im Zentrum Warschaus ein Getto ein, das zum größten seiner Art auf besetztem Gebiet werden sollte. Unter katastrophalen Bedingungen lebten dort bis zu 500.000 Menschen, darunter vor allem Jüdinnen und Juden aus Warschau und weiteren polnischen Regionen sowie jüdische Deportierte aus Deutschland und den besetzten Ländern.
Inmitten der bedrückenden Enge des Gettos formierte sich unter der Leitung des Historikers Dr. Emanuel Ringelblum alsbald eine Chronistengruppe namens „Oneg Schabbat“, die das jüdische Leben und Sterben in der Zwangsgemeinschaft des Gettos zu dokumentieren suchte. Unter Einsatz ihres Lebens trugen die etwa 60 Mitglieder im Geheimen eine beeindruckende Fülle von Dokumenten zusammen, darunter öffentliche Akten, Plakate, Zeitschriften, Flugblätter, Eintrittskarten, Lebensmittelmarken, persönliche Briefe und private Tagebücher. Als zunehmend offenbar wurde, wohin die Politik der Nationalsozialisten führen würde und Berichte über den Mord an den polnischen Jüdinnen und Juden in das Getto drangen, konzentrierten die Mitglieder des Archivs ihre Arbeit darauf, Beweise für die Verbrechen der Nationalsozialisten zu sichern, nicht zuletzt, um ihre Geschichte und die vieler anderer für die Nachwelt festzuhalten. Das Oneg Schabbat-Archiv war damit „einer der ersten Versuche, den von den Deutschen verübten Massenmord zeitgleich und unmittelbar zu dokumentieren”, betonte Feuchert.
Das Anliegen der Chronistengruppe ging jedoch noch über die Dokumentation des Gettoalltags hinaus. Sie wollte auch das Leben der Jüdinnen und Juden vor dem Krieg, die Zerstörung der jüdischen Gemeinden durch die Deutschen und die kurzlebigen Provinzgettos dokumentiert wissen. In diesem Zusammenhang entstand auch Ringelblums Essaysammlung „Über polnisch-jüdische Beziehungen“, aus dessen bisher unveröffentlichter deutscher Erstausgabe der renommierte Schauspieler Dr. Roman Kurtz (Stadttheater Gießen) anschließend Auszüge vortrug. Nüchtern beschreibt Ringelblum darin den Alltag unter prekären Lebensbedingungen im Warschauer Getto, den florierenden Schmuggel, der das Überleben vieler Bewohner:innen überhaupt erst ermöglichte, und die verheerenden Folgen des Massenmords. Vor allem aber kommt darin sein ambivalentes Verhältnis zu den eigenen Landsleuten zum Ausdruck: Einerseits schildert er den tief verwurzelten Antijudaismus der polnischen Gesellschaft, der sich unter der deutschen Besatzung noch verschärfte und die Kollaboration mancher Polinnen und Polen, insbesondere der sogenannten polnischen Blauen Polizei, mit den Besatzern begünstigte. Andererseits würdigt der promovierte Historiker, der zeitlebens eine dezidiert jüdische Forschung profilierte, auch die mutigen Handlungen der polnischen Helfer:innen, die unter Lebensgefahr ihre jüdischen Mitbürger:innen unterstützten. Ringelblum selbst schrieb die Worte, die Kurtz vorlas, in seinem Versteck bei einer polnischen Familie, bevor er im März 1944 entdeckt und erschossen wurde. Wie die meisten anderen Mitglieder des Oneg Schabbat überlebte er den Holocaust nicht.
Doch dank der klugen Weitsicht der Geheimgruppe, die alle bis dahin gesammelten Materialien in Metallkisten und Milchkannen in unterirdischen Verstecken vergrub, als sie das Ende der Getto-Existenz ahnten, überstand das Archiv in weiten Teilen die Zerstörung des Warschauer Gettos infolge des jüdischen Widerstands im Getto im April 1943, der „unglaubliche 28 Tage lang dauerte”, so Feuchert, und konnte nach dem Krieg aus den Ruinen geborgen werden. Insgesamt wurden etwa 35.000 Dokumente gerettet, die heute im Jüdischen Historischen Institut in Warschau aufbewahrt werden.
Inzwischen werde das Ringelblum-Archiv in der Forschung breit wahrgenommen, konstatierte Feuchert. Doch während der Großteil der Dokumente bereits in polnischer Sprache erfasst und in über 30 Bänden ediert wurde, fehle eine deutsche Edition bislang. Gefördert durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur, entsteht seit 2021 an der Arbeitsstelle Holocaustliteratur in Kooperation mit dem Fritz Bauer Institut, dem Zentrum für Holocaust-Studien am Leibniz-Institut für Zeitgeschichte und dem Jüdischen Historischen Institut Warschau eine solche Auswahl-Edition, um diese zentrale Quelle erstmals einem deutschsprachigen Lesepublikum zugänglich zu machen. Herausgegeben wird sie von Dr. Markus Roth (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut), Prof. Andrea Löw (Stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien) und Prof. Sascha Feuchert unter Mitarbeit von Aleksandra Bak-Zawalski (beide AHL). Als Vorstudie zu diesem umfangreichen Editionsprojekt werden im kommenden Jahr das private Tagebuch Emanuel Ringelblums sowie seine Essays zu den polnisch-jüdischen Beziehungen erscheinen.
Im Nachgespräch unterstrich Feuchert noch einmal die Bedeutung des historisch einmaligen Archivs: Es sei ein einzigartiges Beispiel für jüdische Selbstbehauptung und zivilen Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Denn aus dem „Mut der völligen Verzweiflung“ setzten die Chronisten „ein Geschichtszeichen“, so Feuchert, indem sie nämlich ihre eigene Geschichte nicht schreiben ließen, sondern selbst schrieben. Damit schufen sie ein einzigartiges Vermächtnis, das heute als eine der bedeutendsten Quellensammlungen aus dem Holocaust gilt und zum Weltdokumentenerbe der UNESCO gehört.
Sowohl die Gießener Allgemeine Zeitung als auch der Gießener Anzeiger veröffentlichten ebenfalls Berichte über die „außergewöhnliche Lesung”. Zum Beitrag von Albert Mehl, der unter dem Titel „Das Ringelblum-Vermächtnis“ im Gießener Anzeiger erschienen ist, gelangen Sie hier. Die Besprechung von Sascha Jouini in der Gießener Allgemeine Zeitung finden Sie hier.