am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

"Das Land vergisst niemals wirklich, was passiert ist"

03.06.2015

Michael Eisinger berichtete auf Einladung der Arbeitsstelle Holocaustliteratur der JLU Gießen über die Erinnerungskultur in Ruanda 20 Jahre nach dem Genozid

Ab April 1994 wurden in dem afrikanischen Land Ruanda innerhalb von sechs Wochen mehr als 800.000 Tutsis ermordet, insgesamt waren es etwa eine Million Menschen in dreieinhalb Monaten. Die meisten wurden methodisch in gezielten Aktionen in ihren Heimatorten von ihren Nachbarn mit einfachen Waffen wie Macheten und Granaten erbarmungslos niedergemetzelt. Oftmals wurden sie vorher an zentralen Orten wie Kirchen oder Schulen zusammengetrieben. Diesem Genozid ging ein mehr als ein Jahrhundert langer ethnischer Konflikt vor allem zwischen den Volksgruppen Tutsis und Hutus voraus, der durch die Politik der Kolonialmächte entscheidend mitgestaltet wurde.

Zwanzig Jahre nach diesen Ereignissen hat Michael Eisinger im vergangenen Jahr einen Monat lang in Ruanda untersucht, welche Spuren der Genozid im Land hinterlassen hat und wie er heute dort erinnert wird. Darüber berichtete er am 2. Juni auf Einladung der Arbeitsstelle Holocaustliteratur der JLU Gießen.
Eisinger hat an der West Chester University of Pennsylvania ein Studium zum Holocaust und Genozid absolviert und arbeitet aktuell für das AmeriCorps VISTA Programm in den USA, das Holocaust-Überlebenden in alltäglichen Belangen unterstützt.
Ruanda habe eine sehr aktive und präsente Erinnerungskultur, stellt er fest. Jede Gemeinde habe eine eigene Gedenkstätte – oftmals an den Orten, an denen lokale Massentötungen stattgefunden haben – und lokale Gedenktage, an denen Opfer und Täter gemeinsam an die Ereignisse erinnerten. Auch öffentliche Hinweisschilder und Gemeindeprogramme zur Erinnerung und Versöhnung zeugen von einer institutionalisierten und fest verankerten Erinnerungsarbeit. An vielen Orten werden auch Gegenstände wie Kleidung, aber auch Knochen und Überreste der Ermordeten aufbewahrt und ausgestellt. „In einem Massengrab waren die Körper der Ermordeten so dicht zusammengepackt, dass sie konserviert wurden“, berichtet Eisinger. Auch diese mumifizierten Körper kann man heute besichtigen. Im „Millenium Village“ leben und arbeiten Opfer und Täter Seite an Seite, sogar die Wohnhäuser werden so besetzt, dass jeweils Opfer und Täter sprichwörtlich nebeneinander wohnen. „Sie sind auf diese Art und Weise aufeinander angewiesen“, stellt Eisinger fest.

Klar erkennbar ist ein staatlicher Anspruch, Verdrängung und Leugnung des Genozids entgegenzuwirken. So ist es in Ruanda illegal, den Völkermord zu leugnen. Insgesamt sei die Erinnerungs- und Bewältigungskultur „sehr viel anders als überall sonst auf der Welt“, resümiert Eisinger. Diese äußerst aktive und präsente Form der Erinnerungskultur führt jedoch auch dazu, dass Täter in Ruanda heute kaum noch juristisch zur Verantwortung gezogen würden, nur internationale Gerichte klagten diese weiterhin an. Auch seien nicht alle ethnischen Konflikte allein durch diese Gedenkarbeit endgültig beizulegen. Die Erinnerungspolitik sei stark auf den politischen Willen des amtierenden Präsidenten Paul Kagame zurückzuführen. Es gelte abzuwarten, was passiere, wenn er nicht mehr im Amt sei, schließt Eisinger den Vortrag.


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