am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Nähe und Distanz: Holocaust Education Revisited

26.02.2018

Internationale und interdisziplinäre Konferenz an der LMU München.
Vom 22.-25. Februar 2018 fand an der Ludwig-Maximilian Universität in München eine Konferenz mit dem Titel „Nähe und Distanz - Holocaust Education Revisited“ statt, an der auch Jeanne Flaum von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur teilnahm.

 „Wie wäre die Welt, wenn wir uns nicht mit Holocaust beschäftigen würden – beschäftigen wir uns genug mit Holocaust und auf eine Weise, die im hier und jetzt vor Fremdenhass und Ausgrenzung schützt?“ (Renata Behrendt)

Die Idee der internationalen und interdisziplinären Konferenz hat ihren Ursprung in einem Forschungsprojekt, das seit 2014 an der Ludwig Maximilian Universität München durchgeführt wird. Ziel dieses Projektes ist es, die subjektiven Alltagstheorien der am Bildungsprozess beteiligten Personengruppen in formellen und informellen Lernsituationen zu erforschen. Hierfür werden Lehrkräfte, Schüler(innen), pädagogische Mitarbeiter (innen) und Zeitzeugen(innen) befragt, wie sie über den Holocaust lehren und lernen. Geleitet wird das Projekt von Prof. Dr. Anja Ballis am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur sowie des Deutschen als Zweitsprache der LMU München.

Das Projekt versucht zu reflektieren, wie die zur Holocaust Education beitragenden Aktanten jeweils ihr Engagement begründen und wie dieses rezipiert wird. Hierbei geht es darum herauszufinden, welche Ziele sie mit ihrer Bildungsarbeit verfolgen und welche Resonanzen bei ihnen erfahrbar werden. Auf Basis dieses Projekts wurde in den vier Tagen der Konferenz versucht, diverse Zugänge zur Holocaust Education zu finden – immer verbunden mit der Frage, wie es gelingen kann, auch in Zukunft den Holocaust zu vermitteln und ein Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz aufzubauen. Ballis sprach in diesem Zusammenhang von dem Begriff der „Losigkeit“, der auf unterschiedliche Facetten aufmerksam macht. So geht es in Bezug auf Holocaust Education um die Begriffe Sinnlosigkeit, Gefühlslosigkeit, Zeitlosigkeit sowie Sprachlosigkeit. Immer wieder wurde auf die Gegensätze zwischen Nähe und Distanz, zwischen Singularität und Vergleichbarkeit des Holocaust, zwischen Faktenvermittlung und emotionalen Zugängen hingewiesen.

Wulf Kansteiner von der Aarhus Universität in Dänemark sprach in seinem Vortrag von einem institutionalisierten Erinnern an den Holocaust und davon, dass unsere heutige „Holocaust-Kultur“ genau vorgebe, wie wir zu erinnern haben. Er plädierte in diesem Kontext deshalb dafür, kritischere Fragen zuzulassen und mehr Interaktivität zu fördern, denn der aktuelle Diskurs sei stark gelenkt. Nur Konflikte und kontroverse Debatten ermöglichten selbstkritisches Hinterfragen und neue Wege des Erinnerns. „Wo es keine Kontroversen gibt, gibt es auch nichts zu erzählen“, so Kansteiner. In weiteren Vorträgen ging es um die Frage des „Wie“ der Vermittlung. Während es auf der einen Seite die Auffassung gibt, emotionales Lernen am historischen Ort bringe den größten Lernerfolg, wurden auf der anderen Seite Konzepte des objektiven Lernens präsentiert mit der Idee, dass eine zugelassene Distanz ebenfalls Nähe und Verständnis ermöglichen kann. Betroffenheit, Empathie und Emotionen verhelfen nicht unbedingt zur Vermittlung historischen Wissens – auch wenn das einer Umfrage zufolge die verbreitete Meinung vieler Lehrkräfte sei. Unter dem Motto „Orte des Gedenkens = Orte der Emotionen?“ erläuterte Hannes Liebrandt am Beispiel des NS-Dokumentationszentrums in München, dass eine emotionale Überladung im schlimmsten Fall historisches Lernen sogar verhindern könne. Volkhard Knigges Zitat: „Gedenken braucht Wissen. (…) Buchenwald berührt und entsetzt. Aber Weinen allein bildet nicht“, bestätigt die Schwierigkeit des rein „emotionalen Lernens“. Neben zahlreichen Vorträgen gab es außerdem eine Poster-Präsentation, in der unterschiedliche Projekte vorgestellt wurden. Unter anderem stellte Catrin Eckerlein (Mitarbeiterin und Doktorandin der MLU) ihr Dissertationsprojekt vor, in dem sie Studierende und ihre Auseinandersetzung mit dem Holocaust in einer qualitativen Studie untersucht. Hierbei ging sie vor allem auf den Mangel an Lehrangeboten zu der Thematik an deutschen Hochschulen ein. Ein weiteres Poster stellte den Verein heimatsucher.de vor. Der Verein gibt mit der Ausbildung von Zweitzeugen eine Perspektive für die Erinnerungskultur in einer Zeit nach den Zeitzeugen. Das Programm der weiteren Tage gestaltete sich in unterschiedlichen Panels, in denen es Kurzvorträge mit anschließenden Diskussionen gab sowie diverse Workshops. Die Panels waren in unterschiedliche thematische Bereiche untergliedert. Neben dem Angebot zu „Wahrnehmung, Vermittlung und Rezeption“ gab es Vorträge zu „Fiktion und Fakten“, zu „Orten der Vermittlung“ sowie zu dem Bereich „Didaktik und Nachhaltigkeit“. Auch dem Zugang über Literatur wurde in der Konferenz ein großer Stellenwert zugeschrieben. So stellte Jeanette Hoffmann ihr Projekt zum Thema „Erzählen und Erinnern zwischen Fiktion und Realität am Bespiel des Jugendromans Malka Mai“ vor. Sie plädierte dafür, in den Schulen auch den Blick auf aktuellere zeitgeschichtliche Jugendliteratur zu lenken und diese gegen einige kanonisierte Werke auszutauschen. Die Lehrkräfte sollten sich trauen, neue Zugänge zu schaffen.

Außerhalb des Konferenzrahmens an der LMU München konnten die Teilnehmer/innen unter anderem das NS-Dokumentationszentrum in München besuchen und an einem Gedenkkonzert für die Widerstandsgruppe Weiße Rose teilnehmen. Vor genau 75 Jahren, am 22. Februar 1943, wurden die Geschwister Scholl gemeinsam mit ihrem Freund Christoph Probst in Stadelheim hingerichtet. Der vorletzte Abend schloss mit einem Zeitzeugengespräch des Überlebenden Abba Naor ab, der über seine Zeit im Getto Kaunas, über das KZ Strutthof, die Todesmärsche nach Dachau und seine Befreiung durch amerikanische Soldaten im April 1945 berichtete. Abba Naor überlebte den Holocaust und arbeitete später für den israelischen Geheimdienst. Heute spricht er regelmäßig als Zeitzeuge und ist seit 2017 Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees. In wenigen Wochen wird er 90 Jahre alt.

Das größte Potenzial der Tagung lag in der Internationalität und Interdisziplinarität, die es ermöglichten, auf den unterschiedlichsten Ebenen ins Gespräch zu kommen. Es zeigte sich, dass Holocaust Education auch zukünftig eine wichtige Rolle spielen wird und sich gerade in einer Zeit ohne Zeitzeugen vielen neuen Herausforderungen stellen muss.


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