am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

„Medizin im Nationalsozialismus in Gießen. Historische Kenntnisse, Implikationen zur Reflexion heute“ – Bericht zum Vortrag von Prof. Volker Roelcke im Uniklinikum am 1. Februar 2025

05.02.2025

Am 1. Februar nahm AHL-Mitarbeiterin Elisabeth Turvold an einer hausärztlichen Fortbildung im Uniklinikum teil, in deren Rahmen Prof. Volker Roelcke vom Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen zum Thema „Medizin im Nationalsozialismus in Gießen. Historische Kenntnisse, Implikationen zur Reflexion heute“ sprach. In seinem Vortrag beleuchtete der Medizinhistoriker unter anderem die aktive Beteiligung von Ärzt:innen, medizinischen Fakultäten und Forschungseinrichtungen an den rassenideologischen Maßnahmen des NS-Regimes am Beispiel Gießen und erinnerte an die Schicksale der NS-Opfer. Nachfolgend findet sich ein Bericht zu seinem Vortrag.

Gleich zu Beginn seines Vortrags richtete Prof. Roelcke die Aufmerksamkeit auf die allzu bereitwillige und aktive Beteiligung von Ärzten, medizinischen Fakultäten, Fachgesellschaften und Forschungseinrichtungen wie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (seit 1948 Max-Planck-Gesellschaft) an der Umsetzung des nationalsozialistischen Selektionsdenkens und seiner Rassenideologie; Gießen habe dabei keine Ausnahme gebildet.

Konkret verwies er auf zwei Opfer der Gießener Mediziner in der NS-Zeit, für die vor dem Gebäude der alten Chirurgie, heute Medizinisches Lehrzentrum (MLZ), am 6. September 2023 Stolpersteine verlegt wurden. Bei diesen Opfern handelt es sich um die Patientin Valentina Kusnezowa (ca. 1926–1944), eine am Ende in Hadamar ermordete Zwangsarbeiterin aus Weißrussland, und den „halbjüdischen“ Arzt Franz Soetbeer (1870–1943), der in Gestapohaft starb. In demselben Gebäude wurden Zwangssterilisationen an mindestens 590 Männern durchgeführt, in der gegenüberliegenden Frauenklinik hat man mindestens 630 Frauen sterilisiert. Grundlage hierfür war das maßgeblich durch die Ärzteschaft beförderte „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933, das am 1. Januar 1934 in Kraft trat. Insgesamt wurden in Deutschland zwischen 1934 und 1945 ca. 360.000 Sterilisationen vorgenommen.

Prof. Roelcke ging im Weiteren auf einige Täterbiografien ein; dies mit Bezug auf das 1935 eingerichtete Institut für Erb- und Rassenpflege der Medizinischen Fakultät Gießen (Direktor: Prof. Heinrich Wilhelm Kranz, 1897–1945) und das 1943/44 von Berlin nach Mittelhessen ausgelagerte Kaiser-Wilhelm-Institut bzw. spätere Max-Planck-Institut im Obergeschoss eines Gebäudes in der Friedrichstraße (heute Institut für Biochemie). Direktor dieses Instituts war von 1938 bis 1960 Prof. Hugo Spatz (1888–1969), stellvertretender Direktor Julius Hallervorden (1882–1965). Spatz und Hallervorden waren beide mit neuropathologischen Forschungen an Opfern der „Euthanasie“ befasst; im Beisein von Hallervorden kam es auch zu Tötungen „interessanter Fälle“. Es wurden Hirnpräparate von mindestens 700 „Euthanasie“-Opfern von Berlin nach Gießen transferiert. Die Wissenschaftler erhielten in den 1960er Jahren die Ehrendoktorwürde der Medizinischen Fakultät (Hallervorden) bzw. die Ehrensenatorenwürde (Spatz) der Gießener Universität. Erst 2019 wurden ihnen die Ehrungen aberkannt.

Nicht ohne auf die örtliche Nähe zum Unrechtsgeschehen zu verweisen, ging Roelcke auf die allgemeinen historischen Befunde ein. Mit Nachdruck betonte er, dass Ärzte und Ärztinnen in der NS-Zeit nicht als passive Opfer dastanden, sondern Handlungsspielräume besaßen, dass viele Initiativen von den Ärzten selbst ausgingen und Mediziner auch wesentlich an der rassenideologischen Formulierung beteiligt waren. Das Genfer Gelöbnis, Schaden von Patienten abzuwenden, impliziere, Fehlverhalten und Schädigungen an den NS-Opfern zu analysieren, um Ähnliches für die Zukunft zu verhindern. Roelcke appellierte eindringlich an die Kolleginnen und Kollegen, die ärztliche Machtposition nicht zu missbrauchen, statt Opportunismus intuitive Ethik und Rechtsgefühl sprechen zu lassen und sich gegen vermeintliche „Sachzwänge“ zu wehren.

Die anschließende Diskussion formierte sich um Fragen der NSDAP-Zugehörigkeit von Ärzten (knapp die Hälfte) und um die Stellung der Heilpraktiker in NS-Deutschland. Auch kam ein Hinweis auf einen Eintrag in den Tagebüchern von Friedrich Kellner (Bd. 3, 28. Juli 1941) zur Sprache, in dem klar wird, dass dieser um die „Mordzentralen“ zur Tötung geistig Behinderter wusste. Hinsichtlich der Geschehnisse in den Gießener Kliniken besteht weiterer Forschungsbedarf.

Näheres zu Lehre und Forschung des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Gießen findet sich unter www.uni-giessen.de/medhist.


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