Am vergangenen Freitag, den 28. Juni, durfte die Arbeitsstelle Holocaustliteratur gemeinsam mit der Lagergemeinschaft Auschwitz die Historikerin und ehemalige AHL-Mitarbeiterin Prof. Dr. Andrea Löw (stellv. Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München) zu einer Lesung aus ihrem Bestseller „Deportiert. ‚Immer mit einem Fuß im Grab‘. Erfahrungen deutscher Juden“ im Margarete-Bieber-Saal begrüßen. Das Gespräch wurde von Tessa Schäfer, Lehrerin an der Hedwig-Burgheim-Schule Gießen und Mitglied der Lagergemeinschaft Auschwitz, moderiert.
Gewidmet war die Veranstaltung unserem kürzlich verstorbenen und schmerzlich vermissten Freund Gerhard Merz. Nicht nur war er „über Jahrzehnte hinweg eine der wesentlichsten Stimmen Hessens im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und soziale Ausgrenzung“, wie Sascha Feuchert in seiner den Abend eröffnenden Andachtsrede betonte, sondern als Vorsitzender der Lagergemeinschaft Auschwitz und als stellvertretender Vorsitzender des Beirats der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich auch ein bedeutender Unterstützer der AHL. Eine Vielzahl ihrer Veranstaltungen konnten nur dank seines immerwährenden Engagements durchgeführt werden. So ging auch die Buchvorstellung mit Andrea Löw maßgeblich auf seine Initiative zurück.
Mit ihrem Buch „Deportiert“, das im März 2024 im S. Fischer Verlag erschienen ist, legt die Autorin erstmals eine Gesamtgeschichte des oft nur kurzen Lebens der „nach Osten“ deportierten deutschsprachigen Jüdinnen und Juden – beziehungsweise derjenigen, die von den Nationalsozialisten als jüdisch definiert und verfolgt wurden – vor. Nach ersten „Deportationsexperimenten“, so Löw, wurden die im ‚Großdeutschen Reich‘ verbliebenen Jüdinnen und Juden vor allem zwischen Oktober 1941 und Ende 1942 systematisch in die von der SS errichteten Gettos im besetzten Osteuropa, insbesondere nach Lodz/Litzmannstadt (Polen), Riga (Lettland), Kaunas (Litauen) und Minsk (Weißrussland), verschleppt.
Um die Deportation als zentrale Phase der Verfolgungsgeschichte ernst zu nehmen und die damit verbundenen Erwartungen, Realitäten und Reaktionen der Deportierten zu beschreiben, wertete Löw Hunderte von Briefen und Postkarten sowie zahlreiche Tagebücher und Videointerviews aus. Zusätzlich nahm sie Kontakt zu Zeitzeug:innen und deren Familien auf. Die in den persönlichen Dokumenten beschriebenen Erfahrungen verwebt sie in ihrem Buch zu einer kollektiven Geschichte der Deportationen, welche die Ängste, Hoffnungen und Tragödien, die sich für die Opfer des Holocaust abgespielt haben, eindringlich beschreibt.
Für viele deutsche Jüdinnen und Juden begann die Deportation mit dem sogenannten „Evakuierungsbefehl“, der sie manchmal nur wenige Stunden vor dem Abtransport erreichte. Ihnen blieb kaum Zeit, sich von ihren Liebsten zu verabschieden. Nur 50 Kilogramm durfte ihr Gepäck wiegen, den Rest ihres Hab und Guts mussten sie zurücklassen.
Was sie erwartete und wohin sie verbracht würden, war gerade zu Beginn der Deportationen vielen nicht bekannt. So war ihre Reise zunächst eine „Fahrt ins Ungewisse“, wie Löw erläuterte. Anfangs glaubten sie den Beteuerungen der SS, sie würden „zum Arbeitseinsatz in den Osten“ gebracht, was bei einigen Hoffnung und Zuversicht weckte. Erst später drangen immer mehr Gerüchte über die Massenmorde zu den Jüdinnen und Juden im ‚Deutschen Reich‘ und manche ahnten, dass auch sie bald „im Dunkeln verschwinden“ würden, wie es die Historikerin formulierte.
Der ihnen aufgezwungene Weg führte dann zunächst in die überfüllten Sammelstellen in ihrer Heimat, wo sie von Polizisten durchsucht, häufig angeschrien und gedemütigt wurden. Auch nach Jahren der sozialen Isolierung empfanden viele diese Gewalt als zutiefst entwürdigend: „Wie sollte das weitergehen? Und in einem fremden Land?“, fragt Hilde Sherman in einer ersten Passage, die Andrea Löw an dem Abend vorlas.
Doch die Situation verschlimmerte sich mit jedem weiteren Schritt: Etliche starben bereits vor Hunger und Stress auf dem Weg in den engen, überfüllten und meist eiskalten Personenzügen, die Richtung Osten rollten. Spätestens bei der Ankunft in den Gettos aber wurde ihnen bewusst: „Die Welt, in die sie hineingeworfen wurden, war eine der Gewalt“, beschreibt Löw. Denn in einer ihnen völlig fremden Umgebung angekommen, wurden die Opfer unmittelbar mit den Spuren des Massenmords konfrontiert, wie etwa in Minsk und Riga ab Ende 1941, wo Teile der lokalen Gettobevölkerung kurz vor der Ankunft der Deportationszüge erschossen wurden, um ‚Platz‘ für die Neuankömmlinge zu schaffen.
Eine zweite von Löw verlesene Passage führte den Anwesenden vor Augen, unter welch unmenschlichen Bedingungen die Deportierten damals in den Gettos (über)leben mussten: Armut, Hunger, Krankheiten und die Willkür der SS prägten den Alltag. Der Tod war „so alltäglich geworden, wie es einst der Briefträger war“, berichtet etwa Esra Jurmann. Thea Nathan schreibt: „Wir standen immer mit einem Fuß im Grab.“
Dennoch unternahmen sie immer wieder auch Versuche, „eine Gegenwelt zu schaffen“, betonte Löw nachdrücklich, indem sie „in all dem Wahnsinn“ Theaterstücke und Konzerte aufführten oder Fußballspiele organisierten. Auf diese Weise versuchten sie bewusst, jener „Welt des Terrors“ eine „Welt der Kultur“ entgegenzusetzen, so Löw. Diese Akte des kulturellen Widerstands, für die auch soziale Kontakte und gegenseitige Hilfe von zentraler Bedeutung waren, erwiesen sich für einige Wenige, die nach Kriegsende noch von ihren Erfahrungen berichten konnten, als lebensrettende Hoffnungsstifter. Eine von ihnen, Edith Blau, überlebte wie durch ein Wunder sogar mit ihrer Mutter. Sie hält Jahre nach dem Krieg fest: „Meine Mutter und ich waren abwechselnd mutig.“
Nur die allerwenigsten der „nach Osten“ Deportierten aber durften ihre „Befreiung“ erleben. Diejenigen, die körperlich und seelisch erschöpft nach Hause – oder zumindest dorthin, wo alles begann – zurückkehrten, fanden eine völlig veränderte Welt vor, wie durch eine letzte Lesepassage deutlich wurde. So bringt etwa Margot Aufrecht stellvertretend für viele zum Ausdruck: „Die erste Zeit der Befreiung war mir das Leben fast unerträglich, ich habe alles, alles, was ich besessen habe, im Lager verloren.“
Im Anschluss an das Gespräch hatten die Gäste ebenfalls die Möglichkeit, ihre Fragen an die Historikerin zu richten. Dabei ging es vor allem um die Frage, ob und wie aus der Geschichte gelernt werden kann. Neben der schulischen Vermittlungsarbeit wurde auch über den historischen Vergleich zu den durch das Recherchemedium Correctiv aufgedeckten menschenverachtenden „Deportationsplänen“ rechter Aktivisten und Extremisten diskutiert.
Unser herzlicher Dank gilt allen Beteiligten für diesen bewegenden und nachdenklich stimmenden Abend!
Sowohl die Gießener Allgemeine Zeitung als auch der Gießener Anzeiger haben die Veranstaltung in Artikeln besprochen. Zum Beitrag von Leon Wenig, der unter dem Titel „Erinnerung aus Tagebüchern aus den Ghettos“ in der Gießener Allgemeine erschienen ist, gelangen Sie hier. Die Besprechung von Jan Schneider im Gießener Anzeiger finden Sie hier.