Am Dienstag, den 15. November 2022, waren Dr. Leon Weintraub und seine Frau Eva-Maria Loose Weintraub zu Besuch an der Arbeitsstelle Holocaustliteratur der Justus-Liebig-Universität Gießen. Vor rund 100 Studierenden aus den Lehramts- und Masterstudiengängen sprach Weintraub anlässlich seiner im September 2022 im Wallstein Verlag erschienenen Memoiren „Die Versöhnung mit dem Bösen. Geschichte eines Weiterlebens“, die im Gespräch mit der Journalistin Magda Jaros entstanden sind, über seine Kindheit, seine Erlebnisse in den Konzentrationslagern, das Studium der Medizin in Göttingen nach Kriegsende, seine Karriere in Polen und über die Auswanderung nach Schweden aufgrund der antisemitischen März-Unruhen 1968.
Weintraub wurde 1926 als fünftes Kind einer polnisch-jüdischen Familie in Lodz geboren. Sein Vater verstarb nur ein Jahr später, so dass die Mutter ihn und seine vier Schwestern unter schwierigen Verhältnissen alleine aufziehen musste. Bis zum Kriegsausbruch besuchte Leon sechs Jahre lang die Schule. Im Alter von 13 Jahren erlebte er den Einmarsch der Wehrmacht nach Polen. Die Erinnerung an den schmetternden Klang der einmarschierenden Kolonnen lasse ihn noch heute erschaudern, erzählte der 96-Jährige. Im Winter 1939 wurde seine Familie in das Getto Lodz/Litzmannstadt umgesiedelt und er musste Zwangsarbeit verrichten. Im August 1944 wurde er gemeinsam mit seiner Mutter und seinen Schwestern im Zuge der Auflösung des Gettos in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Seine Mutter sah er dort zum letzten Mal. Einige Wochen nach seiner Ankunft gelang es ihm, aus Auschwitz-Birkenau zu entkommen: Einem spontanen Entschluss folgend schloss er sich unbemerkt von den Wachen einem Transport von Arbeitshäftlingen in das KZ Groß-Rosen an. In den letzten Monaten des Krieges wurde Weintraub in die Lager Flossenbürg, Natzweiler-Struthof und Offenburg deportiert. Im April 1945 konnte er mit anderen Gefangenen auf einem Transport in Richtung Bodensee fliehen, als der Zug von Alliierten bombardiert wurde. Er wurde schließlich kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges von französischen Streitkräften in der Nähe von Donaueschingen befreit. Frei aber habe er sich erst gefühlt, als er durch einen glücklichen Zufall erfuhr, dass drei seiner Schwestern das KZ Bergen-Belsen überlebt hatten, so Weintraub. Im Herbst 1946 gelang es ihm, trotz fehlenden Abiturs und nur geringen Deutschkenntnissen ein Studium an der Medizinischen Fakultät in Göttingen aufzunehmen. Nach dem erfolgreichen Abschluss kehrte Weintraub 1950 nach Polen zurück und praktizierte als Gynäkologe und Geburtsarzt in Warschau, wo er im Januar 1966 promoviert wurde. Die antisemitischen Unruhen von 1968 zwangen ihn aber, seine Heimat erneut zu verlassen und in das „neutrale Schweden“ zu emigrieren.
Bis heute lebt Leon Weintraub mit seiner zweiten Frau Eva-Maria in Stockholm und ist seit vielen Jahren als Zeitzeuge gegen das Vergessen aktiv. Ausgehend von seinen Erfahrungen betonte er gegenüber den zahlreichen Zuhörer:innen, wie wichtig es ist, „Mensch zu bleiben“. Seinen 90-minütigen Vortrag schloss er mit den Worten: „Ich hoffe, dass mein Bericht euch in eurer humanistischen, demokratischen Haltung stärkt.“
Weitere Informationen zu Weintraubs Biografie „Die Versöhnung mit dem Bösen. Geschichte eines Weiterlebens“ finden Sie auf den Seiten des Wallstein Verlags hier.