Der Versuch, dem Königsbronner Widerstandskämpfer und Hitler-Attentäter Johann Georg Elser (1903–1945) in einer Biografie gerecht zu werden, sei mit einer ganz „zentralen Schwierigkeit“ verbunden, erklärte Prof. (i.R.) Dr. Wolfgang Benz zu Beginn der Lesung, zu der die Arbeitsstelle Holocaustliteratur, das Literarische Zentrum Gießen und die Hessische Landeszentrale für politische Bildung am 8. November eingeladen hatten. Denn es gebe, so führte er weiter aus, kein einziges persönliches Zeugnis, in dem Elser seine Gedanken, Gefühle, Ängste oder Hoffnungen festgehalten habe. Die Forschung über jenen Mann, der am Abend des 8. November 1939 ein Anschlag auf Adolf Hitler verübte, stütze sich daher vor allem auf die überlieferten Verhörprotokolle der Gestapo. In seinem jüngsten Buch „Allein gegen Hitler“ (C.H. Beck, 2023), das Benz nun anlässlich des 85. Jahrestages des gescheiterten Attentats im Gespräch mit Angelina Isak (AHL) im sehr gut besuchten Hermann-Levi-Saal vorstellte, befasst sich der renommierte Historiker trotz spärlicher Quellenlage mit dem Leben und der Tat Georg Elsers. Er erzählt darin die Geschichte eines einfachen Mannes, der früher als andere erkannte, dass Hitlers Politik unweigerlich zum Krieg führen würde. Um diesen zu verhindern und den sozialen Auftrag, zu dem er sich berufen fühlte, zu erfüllen, entschloss sich Elser „zum Widerstand in seiner höchsten Ausprägung“, wie es Benz in seiner Biografie formuliert (S. 8), „dem Tyrannenmord“.
Elser, der in schwierigen familiären Verhältnissen auf der schwäbischen Ostalb aufwuchs, habe schon früh in seinem Leben einen „ungeheuren Wertstolz“ entwickelt, schilderte Benz. Von Anfang habe er das nationalsozialistische Gedankengut entschieden abgelehnt: Bis 1933 wählte Elser die KPD, trat nicht in die NSDAP ein, verweigerte später konsequent den „Hitlergruß“ und verließ bei im Rundfunk übertragenen Reden Hitlers den Raum. Als sich die Mehrheit der Bevölkerung im „nationalen Taumel“ befand, so Benz, ahnte Elser bereits den zerstörerischen Charakter des NS-Regimes. Er war überzeugt, dass der Kriegstreiberei Hitlers nur Einhalt geboten werden könne, wenn die nationalsozialistische Führung rechtzeitig ausgeschaltet würde. Dass es Elser dabei nicht ausschließlich um die Verhinderung des drohenden Krieges ging, sondern auch um „die Freiheit des Individuums und um die soziale Gerechtigkeit“, betonte Benz nachdrücklich. Bereits 1938 fasste der Pazifist daher den Entschluss, den Diktator im Alleingang durch ein Bombenattentat zu töten.
Für seinen Plan zog Elser nach München, wo Hitler alljährlich am 8. November im Bürgerbräukeller eine mehrstündige Rede anlässlich des Putschversuchs von 1923 hielt. In monatelanger akribischer Vorbereitung präparierte der gelernte Schreiner einen tragenden Pfeiler hinter dem Rednerpult des Lokals für den Einbau der selbst gebauten Zeitzünderbombe. Als diese dann am entscheidenden Abend, dem 8. November 1939, pünktlich um 21.20 Uhr explodierte, verfehlte sie ihr Ziel jedoch knapp: Nur 13 Minuten vor der Detonation hatten Hitler und seine Führungsriege unerwartet den Versammlungssaal verlassen, um den Zug nach Berlin zu nehmen. Noch am selben Abend wurde Elser bei einem Fluchtversuch in die Schweiz festgenommen und gestand nach tagelangen Verhören, das Attentat allein geplant und ausgeführt zu haben. Nach fast sechs Jahren Einzelhaft in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und anschließend Dachau wurde Elser am 9. April 1945, nur 20 Tage vor der Befreiung des KZ Dachau, im Alter von 42 Jahren ohne Gerichtsverfahren ermordet.
Um Elser rankten sich auch nach Kriegsende jene Legenden und Verschwörungstheorien, die schon zu seinen Lebzeiten aufgrund seiner besonderen Behandlung als „Häftling des Führers“ verbreitet worden waren: Als Einzelgänger sei er ein Werkzeug des britischen Geheimdienstes gewesen oder habe im Auftrag des NS-Regimes ein Scheinattentat verübt. „Von dem wirklichen Georg Elser, von dem Attentäter, der das Kriegsunheil von der Welt abwenden wollte, blieb nichts mehr übrig als ein Schemen“, bilanzierte Benz.
Es dauerte mehr als ein Vierteljahrhundert, bis Elser in der Widerstandsforschung Beachtung fand. Einen entscheidenden Beitrag zur öffentlichen Wahrnehmung habe der Film „Georg Elser – Einer aus Deutschland“ (1989) von Klaus Maria Brandauer geleistet, erklärte der Historiker und international anerkannte Vorurteilsforscher. Auch wenn Brandauer sich in der Darstellung viele künstlerische Freiheiten genommen habe, so sei dem Film doch etwas gelungen, was weder dem Historiker Anton Hoch, dessen Elser-Forschung Benz als studentische Hilfskraft begleitete, noch dem Entdecker von Elsers Gestapo-Vernehmungsprotokoll, Lothar Gruchmann, in den 1960er Jahren geschafft hatten, „nämlich das Publikum zu interessieren“. Seitdem habe Elser seinen Platz in der Geschichte des deutschen Widerstands gegen die NS-Diktatur gefunden. Mittlerweile „gibt [es] in vielen Orten Georg-Elser-Straßen, Georg-Elser-Schulen und Denkmäler“, berichtete Benz. Damit stehe er inzwischen „ungefähr auf gleich hohem Sockel wie Graf Stauffenberg“. Dennoch betonte er, dass Elser eigentlich einen höheren Platz in der Geschichte verdiene: Schließlich habe er sich als Einzelner fünf Jahre vor der bekannten Widerstandsgruppe um Stauffenberg zur Tat entschlossen und nicht erst, als der Krieg längst verloren war.
Am Ende blieb die Frage der Moderatorin Angelina Isak, wie die Welt wohl ausgesehen hätte, wenn das Attentat gelungen wäre. „Spekulieren gehört nicht zu unserem Gewerbe, wir sind für die Tatsachen zuständig“, scherzte Benz und antwortete nach dieser Vorbemerkung: Weder der Überfall auf die Sowjetunion noch die Kriegserklärung an die USA hätten womöglich stattgefunden. Auch der Massenmord an Millionen europäischen Jüdinnen und Juden wäre möglicherweise verhindert worden, spekulierte Benz. Und so schloss er mit den Worten: „Es hätte höchstwahrscheinlich sehr viel weiteres ungeheures Unglück vermieden werden können.“
Wir danken Herrn Wolfgang Benz für die faszinierenden Einblicke sowie allen Kooperationspartnern und den vielen Zuhörer:innen, die diesen besonderen Abend möglich gemacht haben!
Die Buchvorstellung fand auch in der regionalen Presse Beachtung. Zum Beitrag der Gießener Allgemeine von Marion Schwarzmann gelangen Sie hier. Für den Gießener Anzeiger schrieb Björn Gauges unter dem Titel „Es fehlten nur 13 Minuten“, die Besprechung finden Sie hier.