am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Bericht über Recherchereise in Polen

21.10.2019

7. bis 12. Oktober 2019

Vom 7. bis 12. Oktober 2019 waren zwei MitarbeiterInnen der Arbeitsstelle Holocaustliteratur auf einer Rundreise durch Polen, um neue Ziele für zukünftige Exkursionen mit Studierenden zu eruieren. Am Montag, den 7. Oktober begann die Reise in der Hauptstadt Warschau mit einer Besichtigung von Teilen des ehemaligen Ghettogebiets. Obwohl das Ghetto beinah vollkommen zerstört wurde, gibt es einzelne Gebäude, die bis heute noch stehen. So auch unter anderem ein Haus, in dem der Dichter, Schauspieler und Kabarettist Wladys?aw Szlengel gelebt hat. Er wurde vor allem durch seine Gedichte, die im Warschauer Ghetto entstanden, bekannt. Szlengel starb während des Warschauer Ghetto-Aufstands 1943.  Eine weitere Station war das Jüdische Historische Institut, in der es unter anderem eine beeindruckende Ausstellung zum Ringelblum-Archiv gibt. Das Institut hat außerdem eine Forschungseinrichtung zum Thema Juden in Polen und zwei weitere Dauerausstellungen, u.a. zum jüdischen Leben.

An unserem 2. Tag ging die Reise von Warschau weiter nach Lódz. Um uns dem Ort langsam anzunähern, besuchten wir zuerst den ehemaligen Bahnhof Radegast. Nach Errichtung des Ghettos Lodz/Litzmannstadt wurde der Bahnhof vor allem für den Transport von Rohstoffen und Nahrungsmitteln benutzt. Im Januar 1942 begann man mit den Deportationen von Juden sowie Sinti und Roma aus dem Ghetto Lodz/Litzmannstadt in das Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno) sowie nach Auschwitz-Birkenau. Der Bahnhof Radegast spielte hierfür eine zentrale Rolle. Mehr als 150.000 Juden und etwa 5000 Sinti und Roma wurden von dort in den Tod geschickt. Seit 2004 ist dieser Ort eine Erinnerungsstätte, die jährlich etwa 35.000 Besucher hat. Der lange, dunkle Tunnel mit den Transportlisten an den Wänden steht symbolisch für die Deportierten, die diesen Weg gegangen sind. Von dort aus befanden wir uns im Anschluss auf den Spuren des ehemaligen Ghettogebiets in der Stadt. Wir besuchten den ehemaligen Sitz der Kriminalpolizei – ein Ort des Terrors während der deutschen Besatzung – und gingen am damaligen Sitz des Archivs, in dem die Ghetto-Chronik sowie die Ghetto-Enzyklopädie entstanden sind, vorbei. Im Gegensatz zu Warschau sind in Lódz heute noch sehr viele Gebäude des Ghettogebiets erhalten.

Am Mittwoch fuhren wir von Lódz zum Museum und der Gedenkstätte auf dem Gelände, auf dem sich das Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno) befand. Dort haben wir einen Einblick in die Bildungsarbeit erhalten. Das Lager Chelmno bestand aus einem Schloss, das als Sammelplatz für die Opfer diente, bevor diese mit Gaswagen (durch eine spezielle Vorrichtung wurden die Opfer mit Motorabgasen getötet) in ein vier Kilometer entferntes Waldgebiet gefahren wurden und dort vergraben wurden. Von Dezember 1941 bis März 1943 wurden in Kulmhof überwiegend Juden aus dem Ghetto Lodz/Litzmannstadt und aus der umliegenden Region ermordet. Man geht von ca. 150.000 jüdischen Opfern und etwa 4000 Sinti und Roma aus. Anfang 1943 wurde das Lager aufgelöst und die SS sprengte das Schloss, um sämtliche Spuren des Verbrechens zu beseitigen. Im Sommer 1944 wurde Kulmhof nochmals „geöffnet“, um weitere Juden aus dem Ghetto Lodz/Litzmannstadt innerhalb von drei Wochen zu ermorden. Die heutige Gedenkstätte hat durchschnittlich etwa 30.000 Besucher pro Jahr. Das Bildungskonzept orientiert sich insbesondere an der Arbeit mit Zeugnissen von Opfern, aber auch von der umliegenden Bevölkerung sowie mit der Arbeit mit Gegenständen, die bei Ausgrabungen Anfang der 2000er gefunden wurden. Ihre Dauerausstellung wird aktuell erneuert. Auf unserem weiteren Weg an diesem Nachmittag nach Lublin haben wir noch einen kurzen Zwischenstopp in Kazimierz Dolny gemacht. Ein Ort, etwa 40 Kilometer westlich von Lublin, mit ca. 2600 Einwohnern, der durch die deutsche Besatzung 1945 zu großen Teilen zerstört war. Nach dem Krieg wurde die Stadt wiederaufgebaut und ist heute eine faszinierende kleine polnische Stadt an der Weichsel, die jährliche viele Touristen anzieht.

Der 4. Tag hat mit einem Besuch in der beeindruckenden Stadt Zamość begonnen. Aus der Region rund um die Renaissancestadt wurden 1942/1943 mehr als 100.000 Polen vertrieben. Sie mussten deutschen Siedlern weichen. Die kreisfreie Stadt gehört seit 1992 zum UNESCO-Weltkulturerbe. 

Am Nachmittag haben wir das ehemalige Vernichtungslager Belzec besucht und einen Einblick in die heutige Gedenkstättenarbeit erhalten. In Belzec wurden zwischen März und Dezember 1942 etwa 500.000 Juden ermordet. Tomasz Hanejko und seine Kollegin haben uns über das Gelände geführt und gaben uns eine Einführung in die Bildungsarbeit vor Ort. Etwa 30.000 Besucher kommen jährlich nach Belzec.

An unserem 5. Tag waren wir zu Besuch bei „Brama Grodzka – Teatr NN“ in Lublin. Ein Kulturverein und Erinnerungsort mit einer sehr beeindruckenden Ausstellung und einem Theater. Der Ort war vor dem Zweiten Weltkrieg das Tor zwischen dem jüdischen Viertel und dem christlichen Leben in der Altstadt. In Lublin waren vor dem Krieg etwa ein Drittel der Bevölkerung Juden. Mit der deutschen Besatzung und der Einrichtung des Ghettos veränderte sich das jüdische Leben drastisch. 1942 war Lublin nach der Deportation und Ermordung fast aller Juden aus der Stadt beinah „judenfrei“. Das Ghettogebiet wurde von den deutschen Besatzern nach und nach vollständig zerstört. Heute ist es ein großer leerer Platz, der an das damalige Ghettogebiet erinnert. Die Leere, die geblieben ist und damit die polnisch-jüdische Vergangenheit der Stadt Lublin stehen im Zentrum der Arbeit von Brama-Grodzka.

Im Anschluss zu dieser eindrucksvollen kulturellen Einrichtung waren wir noch im ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek, das unmittelbar vor der Stadt Lublin liegt. Hier waren neben Juden politische Gefangene und Zivilisten aus Polen und vielen anderen Ländern interniert. Das Lager wurde im Juli 1944 befreit und schon seit Ende 1944 gibt es dort eine Gedenkstätte. Die Verbrechen in Majdanek waren Gegenstand eines der größten SS-Prozesse. Er wurde von 1975 bis 1981 vor dem Landgericht Düsseldorf verhandelt.

Unsere Reise endete wo sie auch begonnen hat – in Warschau. Vor unserer Heimfahrt am Samstag haben wir uns noch das Museum der Geschichte der polnischen Juden (Polin) angesehen. Dort wird die rund tausendjährige vielseitige jüdische Geschichte Polens erzählt und den zahlreichen Besucherinnen und Besuchern eindrucksvoll vor Augen geführt.

Die sechstägige Fahrt hat gezeigt, dass neben unserer jährlichen Exkursion nach Oświęcim (Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau) und Krakau auch weitere Ziele mit Studierenden möglich sind. So könnte man eine Fahrt nach Lódz machen in Verbindung mit dem Lager Kulmhof (Chelmno) sowie aber auch als zweite Möglichkeit das Ziel Lublin anstreben und von dort aus Orte wie Zamość oder das Vernichtungslager Belzec besuchen – Orte, die häufig in Vergessenheit geraten, die aber einer Exkursion mit Studierenden einen ganz neuen Schwerpunkt geben würden.

 


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Arbeitsstelle Holocaustliteratur
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