am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Als Literaten die Flucht vor den Nationalsozialisten ergriffen – Spiegel-Bestsellerautor Uwe Wittstock stellte sein Werk „Marseille 1940“ in Gießen vor

24.01.2025

16. Januar 2025

Es ist zweifellos eines der dramatischsten Kapitel der deutschen Literaturgeschichte: Noch vor dem Angriff der Wehrmacht auf Frankreich im Sommer 1940 waren zahlreiche Literaten wie Anna Seghers, Lion Feuchtwanger und Heinrich Mann ins vermeintlich sichere Exil nach Frankreich geflohen. Doch mit dem Vormarsch der deutschen Truppen gerieten sie erneut in Gefahr. Einige der Verfolgten wurden in französischen Internierungslagern festgesetzt, andere erreichten auf ihrer „zweiten Flucht“ den Transitort Marseille, der zur zentralen Drehscheibe der Exilbemühungen wurde. Viele verdankten ihre Rettung letztlich mutigen Helfenden wie dem US-Journalisten Varian Fry, der mit großer Entschlossenheit ein Netzwerk aufbaute, um bedrohte Intellektuelle außer Landes zu bringen.

Die Flucht- und Lagererlebnisse einiger dieser Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie das selbstlose Handeln ihrer Helferinnen und Helfer stehen im Mittelpunkt von Uwe Wittstocks jüngstem Sachbucherfolg „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“ (Verlag C.H. Beck, 2024). Auf Einladung der Arbeitsstelle Holocaustliteratur stellte der Spiegel-Bestsellerautor sein Werk am 16. Januar im vollen Margarete-Bieber-Saal vor. Im Gespräch mit Alix Czaplinski (AHL) berichtete er unter anderem von seiner zweieinhalbjährigen intensiven Recherche, in der er zahlreiche Tagebücher und Berichte auswertete, um sie zu einer chronologischen Erzählung zu verweben. „Für alles, was hier erzählt wird, gibt es Belege“, betonte Wittstock und unterstrich, dass es sein Ziel gewesen sei, „zu erzählen, nicht zu erfinden“.

Eindrucksvoll schilderte Wittstock die psychischen Belastungen, denen die Flüchtlinge ausgesetzt waren. So las er über die beschwerliche Flucht von Anna Seghers mit ihren Kindern zu Fuß aus einem Pariser Vorort nach Südfrankreich. In einem Moment der Verzweiflung vernichtete sie ihre Papiere, um nicht entdeckt zu werden. „Es war besser, ein Unbekannter ohne Papiere zu sein, als Dokumente zu besitzen, die einen als Gegner des Naziregimes auswiesen“, führte Wittstock aus.

Für diejenigen, die den Verfolgten zur Flucht verhelfen wollten, bedeutete dies jedoch eine enorme Herausforderung. Eine „Zentralfigur“ in diesen dramatischen Ereignissen war der Varian Fry, ein amerikanischer Journalist mit einer „Vorliebe für die künstlerische Moderne“, so der Autor. Als er 1940 von der drohenden Auslieferung zahlreicher Literaten an das NS-Regime erfuhr, begab er sich mit unbeugsamen Willen und einer Liste von 200 Namen exilierter Schriftsteller in der Tasche nach Marseille, das von Hunderttausenden Flüchtenden überfüllt war. Trotz seines oft „schwierigen Charakters“, so wurde in der Lesung deutlich, erwies er sich als „ausgezeichneter Menschenkenner“ und organisierte innerhalb weniger Wochen das „Emergency Rescue Committee“. Dieses kümmerte sich als „eine Art Wohltätigkeitsorganisation“ um die oft komplizierte und nahezu unmögliche Beschaffung von Ausweispapieren und Visa für mögliche Exilländer und führte die Fliehenden über gefährliche Routen wie die Pyrenäen nach Spanien. Unterstützt von engagierten Helferinnen und Helfern wie Lisa und Hans Fittko gelang es Fry, bis 1942 rund 2.000 Menschen die Flucht aus Frankreich zu ermöglichen. Unter den Geretteten befanden sich bekannte Persönlichkeiten wie Hannah Arendt, Franz Werfel, Alma Mahler-Werfel und die Familie Mann. „Die Geschichten dieser mutigen Helfer waren ein Lichtstrahl in dieser dunklen Zeit des Hasses“, betonte Wittstock. „Die Menschen waren ihnen völlig fremd, aber es genügte ihnen zu wissen, dass sie gegen Hitler waren, um zu helfen.“ Das sei ein „ganz seltener Mut“ gewesen, der es verdiene, in Erinnerung zu bleiben.

Obwohl die deutsche Literaturgeschichte Fry als einem der „erfolgreichsten Fluchthelfer des Zweiten Weltkriegs“ viel zu verdanken habe, starb er 1967 dennoch weitgehend unbekannt, erklärte Wittstock. Heute erinnern in Marseille eine Gedenktafel und ein Klingelschild an den Orten seines Wirkens an ihn. Damit habe er zumindest „seinen Platz in der Stadt“ gefunden, resümierte er. Dass er diesen künftig auch in der Literaturgeschichte haben wird, dazu hat Uwe Wittstock mit seinem jüngsten Werk „Marseille 1940“ beigetragen.

Sowohl der Gießener Anzeiger als auch die Gießener Allgemeine haben die Veranstaltung in Artikeln besprochen. Zum vollständigen Beitrag der Gießener Allgemeine von Karola Schepp mit dem Titel „Wie Varian Fry zum Retter wurde“ gelangen Sie hier. Die Besprechung von Björn Gauges im Gießener Anzeiger finden Sie hier.


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