Vor genau 13 Jahren, im November 2011, erfuhr die breite Öffentlichkeit erstmals von der Existenz der rechtsextremen Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU), die zwischen 2000 und 2006 neun rassistisch motivierte Morde an Menschen mit Migrationsgeschichte verübte und im Jahr 2007 auch eine deutsche Polizistin erschoss. In der Berichterstattung über die NSU-Verbrechen wurde jedoch das Leid der Hinterbliebenen oft in den Hintergrund gedrängt. Die „NSU-Monologe“ setzen genau hier an: Sie geben den Angehörigen eine Stimme, machen ihr Leid und ihre Forderungen hörbar.
Auf Einladung der Arbeitsstelle Holocaustliteratur, der Bundeszentrale für politische Bildung, der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, des Stadttheaters Gießen und des Literarischen Zentrums Gießen war das Stück am 5. November erstmals im Stadttheater Gießen zu sehen. Im Anschluss an die Darbietung fand ein moderiertes Nachgespräch statt, in dem die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız und Dr. Reiner Becker, Leiter des Demokratiezentrums Hessen, das Gesehene einordneten und den Fragen nachgingen, welche sozialen und politischen Konsequenzen aus der NSU-Mordserie gezogen wurden – und wo weiterhin schmerzliche Leerstellen bestehen.
In ihrer Eröffnungsrede betonte Kerstin Gröger von der Bundeszentrale für politische Bildung, dass die „NSU-Monologe“ „viel mehr als ein Theaterstück“ seien. Basma Bahgat von der Bühne für Menschenrechte ergänzte, sie seien vor allem eine Einladung zur Empathie mit den Opfern von Rassismus. Im Zentrum stehen die persönlichen Geschichten von Elif Kubaşık, Adile Şimşek und İsmail Yozgat, deren Angehörige durch den NSU aus dem Leben gerissen wurden und denen an diesem Abend die Schauspieler:innen Alyin Esener, Elisabeth Pleß, Asad Schwarz-Msesilamba und Neslihan Arol ihre Stimmen liehen. Kubaşık und Şimşek verloren ihre Ehemänner Mehmet Kubaşık und Enver Şimşek, während İsmail Yozgat um seinen Sohn Halit trauert, der gerade einmal 21 Jahre alt wurde. Das dokumentarische Stück, das auf Interviews und Gerichtsprotokollen basiert, schildert ihre Hoffnungen, in Deutschland eine neue Heimat zu finden, aber auch ihre Wut und ihren Schmerz über die Verbrechen des NSU sowie ihren mühsamen Kampf um Gerechtigkeit. Denn lange Zeit wurden die Angehörigen selbst verdächtigt und ihnen haltlos Verbindungen ins kriminelle Milieu unterstellt, während die rassistischen Motive der Morde trotz früher Hinweise jahrelang ignoriert wurden. Eine Entschuldigung an die Familien seitens der Behörden gebe es bis heute nicht.
Die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die im NSU-Prozess die Familie von Enver Şimşek als Nebenklägerin vertrat, wundert das nicht, wie sie im Nachgespräch deutlich machte. Sie kritisierte das fehlende Unrechtsbewusstsein der Behörden, die offenbar zwischen „Opfern erster und zweiter Klasse“ unterschieden. Die Verdächtigungen und der Umgang der Behörden mit den Familien seien kaum nachvollziehbar, betonte auch Dr. Reiner Becker. Trotz der gesellschaftlichen und medialen Sensibilisierung für das Thema Rassismus – insbesondere durch die Bemühungen der Angehörigen, die mit Mahnwachen und Trauermärschen selbst auf das erlittene Unrecht aufmerksam machen mussten – seien auf institutioneller und struktureller Ebene die entscheidenden Lehren nicht gezogen worden, waren sich beide Experten einig. „Der politische Wille ist nicht da“, stellte Başay-Yıldız fest. Abschließend betonte Reiner Becker daher, dass Demokratie „nichts Passives“ sei. Der Empathie, die beispielsweise Theaterstücke wie die „NSU-Monologe“ hervorrufen, müsse auch ein gesellschaftliches Umdenken und aktives Handeln folgen – und dazu sei jeder Einzelne angehalten.
Die Gießener Allgemeine Zeitung berichtete am 7. November ebenfalls ausführlich über Veranstaltung. Den Artikel von Karola Schepp mit dem Titel „Eine Einladung zu mehr Empathie“ können Sie hier nachlesen.
Herzlichen Dank an alle beteiligten Kooperationspartner und die Bühne für Menschenrechte e.V. für diesen besonderen Abend, dessen Eindrücke noch lange nachklingen werden.