am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

′Klügers Einfluss ist wirklich nicht zu überschätzen′ - Nicolas Berg, Sascha Feuchert und Thedel v. Wallmoden sprachen in einer Hybrid-Diskussion über Ruth Klüger und die Holocaustforschung

12.10.2023

11. Oktober 2023

Unter dem Titel „Anders lesen“ veranstaltete das Fritz Bauer Institut in Zusammenarbeit mit der Arbeitsstelle Holocaustliteratur am 11. Oktober 2023 im Casino-Gebäude der Goethe-Universität Frankfurt eine Hybrid-Diskussion, die sich dem literarischen Schaffen von Ruth Klüger (1931–2020) und ihrem Einfluss auf die Holocaustforschung widmete. Zu Gast auf dem Podium waren Dr. Nicolas Berg (Dubnow Institut), Prof. Thedel von Wallmoden (Wallstein Verlag) und Prof. Dr. Sascha Feuchert (AHL, Justus-Liebig-Universität Gießen). Moderiert wurde die Diskussion von Dr. Katharina Rauschenberger (Fritz Bauer Institut). 

In diesem Punkt waren sich die Diskutanten besonders einig: Ruth Klüger hat sie alle, wenn auch auf verschiedene Weisen, in ihrem Tun geprägt. Dies gilt vor allem für ihr Erinnerungsbuch „weiter leben. Eine Jugend“, mit dem die Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin weltberühmt wurde und das heute zu den bedeutendsten Texten der Holocaustliteratur zählt. Darin berichtet Klüger mit der „Authentizität der Zeugin“ und zugleich mit „wissenschaftlichem Anspruch“, so Thedel von Wallmoden, von ihrer Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus sowie von ihren Erfahrungen in verschiedenen Konzentrationslagern, aber vor allem auch vom ‚weiter leben‘ nach dem Überleben. Ihre Memoiren erschienen erstmals 1992 im Göttinger Wallstein Verlag, den von Wallmoden sechs Jahre zuvor mitgegründet hatte. Er gab daher zunächst Einblicke in die Aufnahmegeschichte des Buches in das Programm des noch jungen Wallstein Verlags. Mit über 500.000 verkauften Exemplaren wurde es zu dessen erstem großen Bucherfolg und war für die Entwicklung des Verlags von „herausragender Bedeutung“, erläuterte Katharina Rauschenberger. 

Nicolas Berg unterstrich, dass es vor allem Klügers eminente „Widerborstigkeit“ sei, die das Buch besonders auszeichne. Dass es von der Kritik als „versöhnliches“ Werk bezeichnet wurde, müsse fast als eine „Rezeptionsverweigerung“ gewertet werden, ergänzte Sascha Feuchert: Klüger unterbreite nämlich den Lesenden – oder, wie sie dezidiert feministisch betont, den weiblichen Leserinnen – ein Gesprächsangebot, sich „mit ihr zu streiten“. Klügers Aussage, man könne es ihr nicht recht machen, sei somit ein Leitthema des Buches, das laut Berg ein „Klassiker“ ist, da es immer wieder neu – und eben immer wieder anders – gelesen werden kann. 

Klügers Einfluss erstreckt sich jedoch nicht nur auf die persönlichen Erfahrungen der Podiumsteilnehmer, denn ihre kritische Stimme hat auch die Holocaustforschung in besonderer Weise geprägt: Nicht zuletzt ihre kritische Haltung gegenüber Gedenkstätten als „ritualisiertem Ablasshandel“, wie von Wallmoden es formulierte, oder ihr Beharren auf der Dekonstruktion des literarischen Topos von der „Unsagbarkeit“ des Holocaust haben sich als diskursverändernd erwiesen. Die jüngst im Wallstein Verlag erschienene Anthologie „Anders lesen: Juden und Frauen in der deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts“, die der Anlass der Veranstaltung war, zeigt, dass sie auch eine begnadete Literaturwissenschaftlerin war: Immer wieder griff sie die marginalisierten Geschichten von Frauen auf und schärfte so den Blick für geschlechtsspezifisches Schreiben und Lesen. Sascha Feuchert betonte, dass gerade diese Perspektivenerweiterung ihr zentrales Verdienst und ihr Einfluss sowohl auf die Literaturwissenschaft als auch auf die Holocaustforschung daher „wirklich nicht zu überschätzen“ sei. 

Die Veranstaltung wurde auch als Livestream übertragen, der nun auf dem YouTube-Kanal des Fritz Bauer Instituts hier abrufbar ist.


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Arbeitsstelle Holocaustliteratur
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