„Alles, was du in der Schule NICHT über Nazi-Verbrechen lernst“ – unter diesem Motto engagiert sich Susanne Siegert (*1992) auf ihrem Instagram- und TikTok-Kanal @keine.erinnerungskultur für die Aufklärung über den Holocaust und den Nationalsozialismus. Mit ihrer Arbeit, für die sie bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, erreicht sie plattformübergreifend etwa 400.000 Menschen. Im Oktober erschien ihr erstes Buch unter dem Titel „Gedenken neu denken. Wie sich unser Erinnern an den Holocaust verändern muss“ im Piper Verlag. Darin entwickelt sie eine zeitgemäße Perspektive auf die deutsche Erinnerungskultur und plädiert für eine pluralistische Gedenkarbeit, die insbesondere die Verantwortung der Nachfahren der Tätergeneration, weniger bekannte NS-Verbrechen, vergessene Orte und bislang marginalisierte Opfergruppen in den Mittelpunkt rückt.
Auf Einladung der Arbeitsstelle Holocaustliteratur, des Kulturamts Gießen, der Lagergemeinschaft Auschwitz sowie des Aktzentbereiches „Holocaust- und Lagerliteratur“ der JLU Gießen stellte Siegert ihr Buch am 11. November 2025 im bis auf den letzten Platz gefüllten Hermann-Levi-Saal des Gießener Rathauses vor. Rund 200 vorwiegend junge Besucher:innen verfolgten die Lesung und das anschließende Gespräch, das von Jennifer Ehrhardt (AHL) moderiert wurde. Finanziert wurde die Veranstaltung durch die Third Mission Fonds der JLU Gießen.
Gleich zu Beginn stellte Siegert klar, dass ihr Buch unter anderem aus dem Wunsch entstanden sei, mehr Raum für eine vertiefte Auseinandersetzung mit Fragen der Erinnerungskultur zu schaffen, als dies in kurzen Social-Media-Videos möglich sei. Dennoch sei es ihr wichtig, dass ihr Werk nicht als „TikTok-Buch“ missverstanden werde. Vielmehr gehe es ihr darum, komplexe Debatten verständlich aufzubereiten und so einem breiten Publikum zugänglich zu machen – auch und vor allem jenen, die sich von wissenschaftlicher Literatur häufig „eingeschüchtert“ fühlten.
Auf die Frage, warum sie – wie im Vorwort beschrieben – zunächst Zweifel hatte, ob gerade sie als „TikTok-Aktivistin“ und „deutsche Millennial“ ein solches Buch verfassen dürfe, antwortete Siegert, man müsse den Gedanken ablegen, keine Stimme in den Erinnerungskulturen zu besitzen, nur weil man nicht in einer entsprechenden Institution arbeite oder kein politisches Amt innehabe. Jede:r könne als gesellschaftliches „Korrektiv“ wirken, Debatten anstoßen und etablierte Perspektiven hinterfragen. Gerade weil im öffentlichen Bewusstsein nur bestimmte Aspekte der NS-Vergangenheit präsent seien, sei es wichtig, neue Impulse zu setzen.
Wie dies gelingen kann, zeigt die gelernte Journalistin seit Jahren auf ihren Social-Media-Kanälen. Im Jahr 2020 begann sie ihre Bildungsarbeit zunächst über den mittlerweile inaktiven Instagram-Kanal @kz.aussenlager.muehldorf. Ihr erster Besuch auf dem Gelände dieses ehemaligen Außenlagers des KZ Dachau – nur wenige Kilometer von ihrer Heimat entfernt – war ein entscheidender Ausgangspunkt für ihr Engagement. Und so stellte sie sich erstmals mit 27 Jahren intensiv die Frage: „Was war eigentlich mit den Nazis vor meiner eigenen Haustür?“ Sie bemängelt, dass zu selten der „Finger in die Wunde vor Ort“ gelegt werde, obwohl gerade die Auseinandersetzung mit ehemaligen Tatorten in der eigenen Umgebung großes Potenzial biete. In einer gelesenen Passage betonte sie: „Nur indem man diese Orte in das Gedenken einbezieht und den Blick auch auf jene fernab der großen Gedenkstätten richtet, erkennt man das vollständige Bild und die flächendeckende, systematische Natur der NS-Verbrechen.“ (S. 63)
Siegert spricht sich dafür aus, keinen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, sondern einen Trennstrich – insbesondere etwa zwischen einzelnen Tätern und der breiten Tätergesellschaft, die bislang zu wenig Beachtung gefunden habe. Sie ruft dazu auf, das „theoretische Wissen auf die eigene Familie anzuwenden“ und tradierte Erzählungen im Familiengedächtnis kritisch zu hinterfragen. Ebenso müsse das lange dominante Narrativ von ausschließlich wehrlosen Opfern aufgebrochen und der Blick auf den Widerstand von Verfolgten sowie auf Formen der Alltagssolidarität gerichtet werden. In diesem Sinne plädiert Siegert für eine „Gedenkarbeit“, die auch aktiv und gegenwartsbezogen ist und nicht nur auf ‚einstudierte‘ Rituale der Erinnerungskultur setzt.
Im Anschluss an das Gespräch nutzten zahlreiche Gäste die Gelegenheit, Fragen zu stellen. Besonders interessierte das Publikum, welche Reaktionen Siegert auf ihre Videos in den sozialen Medien erhält. Diese reichten laut Siegert von wertschätzenden Rückmeldungen und ernsthaften Nachfragen bis hin zu abwertenden Kommentaren. Letztere versuche sie bewusst auszublenden: „Diesen Frust lasse ich gar nicht an mich heran, sondern fokussiere mich auf den konstruktiven Austausch und die konstruktive Kritik.“ Gefragt nach ihren weiteren Plänen, erklärte Siegert, dass ein zweites Buch nicht ausgeschlossen sei. Wichtig sei ihr jedoch vor allem, dass Plattformen wie Instagram und TikTok nicht länger belächelt, sondern als ernstzunehmende Räume gesellschaftlicher Kommunikation und des Gedenkens anerkannt werden.
Unser herzlicher Dank gilt allen Beteiligten für diesen eindrucksvollen und anregenden Abend!
Die Veranstaltung wurde ebenfalls in der Gießener Allgemeinen Zeitung (13.11.2025, S. 23) und im Gießener Anzeiger (13.11.2025, S. 26) ausführlich besprochen.