am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

„Es ist höchste Zeit, dass wir zuhören“ – Nachbericht zu den multimedialen Lesungen aus „Das Vermächtnis. Reden von Überlebenden in Auschwitz“ in Lich und Berlin

17.11.2025

30. Oktober und 6. November 2025

Seit 1995 wird mit einer zentralen Gedenkfeier in Auschwitz an die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers erinnert. Zum 80. Jahrestag der Befreiung erschien 2025 der Band „Das Vermächtnis. Reden von Überlebenden in Auschwitz“, herausgegeben von Sascha Feuchert und Aleksandra Bak-Zawalski. Die dreisprachige Edition (Polnisch, Deutsch, Englisch) versammelt erstmals alle auffindbaren Reden, die Überlebende zu diesem Anlass am Ort des historischen Geschehens gehalten haben. Präsentiert wurde der Band nun im Rahmen zweier multimedialer Lesungen – zunächst Ende Oktober zum Auftakt der jährlichen Novemberreihe in Lich und wenige Tage später in der Hessischen Landesvertretung in Berlin. Realisiert wurde die Edition in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Auschwitz und finanziellen unterstützt von der Hans und Berthold Finkelstein Stiftung sowie dem Förderverein der AHL.

Auftakt der Veranstaltungsreihe zum 9. November 1938 in Lich

Am 30. Oktober fand die einstündige szenische Lesung erstmals unter dem Motto „Seid nicht gleichgültig!“ im vollbesetzten Kino Traumstern in Lich statt. Die Veranstaltung eröffnete die diesjährige Novemberreihe, die von der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich gemeinsam mit zahlreichen Partnern zum Gedenken an die Novemberpogrome von 1938 organisiert wird.

Nach der Begrüßung durch Torsten Denker, Leiter der Kreisvolkshochschule und Mitorganisator der Veranstaltung, wandte sich Landrätin Anita Schneider (SPD) mit einem Grußwort an die rund 170 Gäste. In ihrer Ansprache würdigte sie das Engagement der Herausgebenden und hob die besondere Bedeutung der Worte der Überlebenden hervor. Diese vermitteln laut Schneider „eindringlicher“, was historische Darstellungen allein oft nicht erfassen können. Angesichts der Tatsache, „dass es eine Zeit in naher Zukunft geben wird, in der die Zeitzeugen mit ihren direkten Ansprachen nicht mehr da sein werden“, sei es „umso wichtiger, auch ihre Reden zu bewahren und immer wieder in Veranstaltungen aufleben zu lassen“, betonte Schneider. Mit Blick auf den Anstieg antisemitischer Straftaten in Deutschland warnte sie, dass „das Unsagbare wieder sagbar geworden“ sei. Daher appellierte sie an die Verantwortung aller, sich bewusst zu machen, dass „trotz der Aufarbeitung unserer Geschichte keine Gewissheit [bestehe], dass das, was geschehen ist, nicht wieder geschehen könnte.“

Im Anschluss führte Herausgeberin Aleksandra Bak-Zawalski in die Entstehung der Edition ein. Sie berichtete, dass lediglich fünf Prozent der Dokumente aus Auschwitz erhalten geblieben seien, und erläuterte die Wandlungen der Gedenkfeiern im Laufe der Zeit – von einem anfänglich „politischen Instrument“ hin zu einer „moralischen Verpflichtung“. Heute werde die Erinnerung an den Holocaust als „gemeinsames Erbe Europas und der gesamten Menschheit“ verstanden, so Bak-Zawalski. Die Reden der Auschwitz-Überlebenden seien Teil „eines einzigartigen Vermächtnisses, das in Vergessenheit zu geraten drohte“. Ziel der Herausgebenden sei es daher gewesen, „das Gedenken zu bewahren, das nicht verstummt, sondern auch eine Verpflichtung gegenüber der Zukunft wird.“

So trugen sie rund 50 weltweit verstreute Reden in der Edition zusammen. Für die Lesung hatte Elisabeth Turvold acht Texte ausgewählt, die der Hörbuchsprecher Sven Görtz eindrucksvoll vortrug. Begleitet wurde die Darbietung von großformatigen Porträts und Videosequenzen der Überlebenden sowie von biografischen Skizzen, die von Studierenden der Germanistik gelesen wurden.

Veranstaltet wurde die multimediale Lesung von der AHL der JLU Gießen, künstLich e.V./Kino Traumstern und der Volkshochschule Landkreis Gießen, in Kooperation mit Arbeit und Leben Hessen, dem Deutschen Gewerkschaftsbund, der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich, der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, dem Förderverein Stadtbibliothek Lich, der Jüdischen Gemeinde Gießen, der Initiative „Lebendige Demokratie“, dem Literarischen Zentrum Gießen und dem Polizeipräsidium Mittelhessen.

Ein Bericht über die Veranstaltung von Barbara Czernek, den Sie u.a. hier nachlesen können, erschien im Gießener Anzeiger sowie in der Gießener und der Alsfelder Allgemeinen Zeitung.

Lesung und Gespräch in der Hessischen Landesvertretung in Berlin

Rund eine Woche später, am 6. November, stand „Das Vermächtnis“ im Mittelpunkt einer weiteren Veranstaltung, diesmal in der Hessischen Landesvertretung in Berlin. Manfred Pentz, Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Internationales und Entbürokratisierung und Bevollmächtigter des Landes Hessen beim Bund, hatte zu einer Aufführung der multimedialen Lesung eingeladen. Neben Sven Görtz wirkten alle Mitarbeitenden der AHL, die den Abend gemeinsam mit dem Internationalen Auschwitz-Komitee (IAK) organisierte, erneut mit.

Vor rund 200 Gästen eröffnete Dr. Katharina Brauer, Dienststellenleiterin der Hessischen Landesvertretung, die Veranstaltung. Anschließend richtete Dr. Eva Umlauf, Präsidentin des IAK und Holocaust-Überlebende, ein Grußwort an das Publikum. Darin würdigte sie zunächst die Tätigkeiten der AHL und betonte: „Seien sie versichert, dass ihre Arbeit, ihre Gedanken und Gedenken, den Herzen von uns Überlebenden so viel näher ist, als das nüchterne Wort ‚Arbeitsstelle‘ vermuten lässt. Sie denken nach und sie geben diesen Gedanken eine Zukunft, indem sie sie bewahren und anderen Menschen zugänglich machen.“

Als herausragendes Beispiel dieser Arbeit hob Umlauf den Band „Das Vermächtnis“ hervor, den sie als ein „Mammutwerk“ bezeichnete. Die darin versammelten Reden seien „kluge, hellsichtige, zarte und tieftraurige Worte“ von Menschen, „die die Realität von Auschwitz am eigenen Leib gespürt und zumeist ihre ganze Verwandtschaft in der Asche von Auschwitz zurückgelassen haben“, und die „trotz des unendlichen Meeres von Leid, das ihnen innewohnt, doch immer auch von Hoffnung gespeist werden“. Zugleich stellte sie angesichts der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen jedoch die Frage: „Haben diese Worte und Reden der Überlebenden Wirkung gezeigt? Waren sie vielleicht in den Wind gesprochen?“ Ihre Antwort mündete in einen Appell an die Anwesenden: „[O]b die Worte meiner Freundinnen und Freunde, von denen viele schon nicht mehr unter uns sind, tatsächlich gelten – das entscheiden heute und in Zukunft ganz allein Sie!“

Im Anschluss an die Lesung, bei der Sven Görtz den Überlebenden erneut seine Stimme lieh und Mitarbeitende der AHL die biografischen Hintergründe der Redner:innen präsentierten, folgte ein Gespräch mit den Herausgebenden Sascha Feuchert und Aleksandra Bak-Zawalski. Moderiert wurde es von Christoph Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des IAK. Sie berichteten über die Herausforderungen ihrer Recherchen und den besonderen literarischen Rang der Reden, die Feuchert als „wohl bedeutendste Reden des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete. Gleichzeitig äußerte der Literaturwissenschaftler und -didaktiker große Sorge darüber, dass die Botschaften der Überlebenden heute kaum noch Gehör finden: „Es ist höchste Zeit, dass wir zuhören und dass wir verstehen“, mahnte er.

Die Hans und Berthold Finkelstein Stiftung berichtet ebenfalls auf ihrer Homepage über die Veranstaltung. Zum Beitrag gelangen Sie hier.

Hier erfahren Sie mehr über das Buch und wie Sie es bestellen können.


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