am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Eine Spurensuche mit überraschender Wendung – Der Historiker Robert Jütte stellte am 14. Dezember im Rahmen einer Lesung in der UB Gießen sein Werk „Bücher im Exil: Lebensspuren ihrer jüdischen Besitzer“ vor

18.12.2023

14. Dezember 2023

Mit einer Buchvorstellung von Prof. Dr. Dr. h.c. Robert Jütte, ausgerichtet von der AHL, der Universitätsbibliothek Gießen und dem Literarischen Zentrum Gießen, fand das umfangreiche und vielfältige Veranstaltungsprogramm zum 25-jährigen Jubiläum der Arbeitsstelle Holocaustliteratur am 14. Dezember 2023 einen würdigen Abschluss. Im Zeitschriftenlesesaal der Universitätsbibliothek der Justus-Liebig-Universität Gießen nahm der Historiker das Publikum mit auf die Spurensuche in seinem Band „Bücher im Exil: Lebensspuren ihrer jüdischen Besitzer“, der im September 2022 bei Metropol erschienen ist. Erstmals präsentierte er auf seiner Lesereise bisher unveröffentlichte Dokumente und überraschte die Anwesenden mit der Füllung einer biographischen Lücke im Leben des Juristen Ernst-Ludwig Chambré, mit dem die AHL in vielfacher Weise eng verbunden ist.

Robert Jütte, ehemaliger Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung und Honorarprofessor an der Universität Stuttgart, hat zahlreiche Schriften über die (Früh-)Geschichte der Medizin sowie zu ihrer Geschichte im Nationalsozialismus, aber auch zum Judentum veröffentlicht. Mit dem Eintritt in den Ruhestand musste seine im Laufe der umfangreichen Publikationstätigkeit angewachsene Privatbibliothek jedoch aus Platzgründen ausgedünnt werden. Dabei habe die Zahl der antiquarisch erworbenen Judaica mit Exlibris ihrer jüdischen Vorbesitzer, wie er in seiner Danksagung zum Buch schreibt, „eine kritische Masse“ erreicht, die ihn zur Abfassung des Buches veranlasst habe. Seine Recherchen über die jüdischen Vorbesitzer und die Umstände, unter denen die Bücher aus ihrem Besitz in seine Privatbibliothek gelangten, führten dabei in einigen Fällen zu bemerkenswerten Ergebnissen. In seinem Buch, das insgesamt zehn Einzelschicksale schildert – zumeist von Holocaust-Überlebenden, aber auch von einem jungen Berliner Juden, der 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde –, zeichnet Jütte mit „großer Kraft und Einfühlungsvermögen“ bewegende Lebensgeschichten nach, so Prof. Dr. Sascha Feuchert, der als Moderator durch den Abend führte.

Nach Begrüßungsworten durch Dr. Peter Reuter (Bibliotheksdirektor der JLU Gießen) begann Jütte mit seiner Buchvorstellung. Als besonderes Fallbeispiel wählte er einen zionistischen Palästina-Reiseführer von Hugo Herrmann aus dem Jahr 1934, den er im Jahr 2011 auf der Ludwigsburger Antiquariatsmesse erworben hatte. Auf dem Vorsatzblatt trägt er folgende Widmung:

„Lieber Ernst! Behalte Palestina [sic] und uns in guter Erinnerung. Haifa 12/10/47. Elisabeth & Siegfried Stern.“

Die Biografie der Schenkenden konnte Jütte mit viel Geschick und Beharrlichkeit genaustens recherchieren: Es handelt sich um den Rechtsanwalt Shlomo (Siegfried) Stern und seine Frau Elisheva (Elisabeth) Stern (geb. Dann). Das Ehepaar lernte sich in Augsburg kennen, war aber zu verschiedenen Zeiten nach Palästina ausgewandert und hatte sich schließlich in Haifa niedergelassen. Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes im Jahr 1959 verbrachte Elisheva ihren Lebensabend bei ihrer Tochter im Kibbuz Maoz Haim nahe der jordanischen Grenze. Ihre Erinnerungen hat sie in dem vom Gernot Römer herausgegebenen Band „Die vier Schwestern. Die Lebenserinnerungen von Elisabeth, Lotte, Sophie und Gertrud Dann aus Augsburg“ (1998) festgehalten.

Als Jütte, der u.a. von 1983 bis 1989 als Dozent und später als Professor für Neuere Geschichte an der Universität Haifa/Israel tätig war, im Jahr 2010 anlässlich der Hochzeit einer Verwandten seiner Frau ebenfalls in diesen Kibbuz kam, hätte er noch mit der damals 104-jährigen Elisheva sprechen können. Er konnte jedoch nicht ahnen, dass der zufällige Kauf eines Buches nur wenige Monate darauf beide mit diesem Ort verbinden würde. Die hochbetagte Elisheva erinnerte sich später nicht mehr daran, wem sie den Reiseführer geschenkt hatte; sie starb im Mai 2012. So blieb der Widmungsadressat zunächst ein Restgeheimnis.

Erst als Jütte wenige Monate nach Erscheinen der Anthologie eine englische Übersetzung des Kapitels als Dank an die Angehörigen von Elisheva Stern schickte, lieferten diese den entscheidenden Hinweis: Es stellte sich heraus, dass es sich bei dem gesuchten Vorbesitzer des Souvenirgeschenks um den aus dem oberhessischen Lich stammenden Holocaust-Überlebenden Ernst-Ludwig Chambré handelt. Zuvor war über Chambrés Fluchtweg lediglich bekannt gewesen, dass er einige Jahre in Palästina verbracht hatte, bevor er 1947 in die USA emigrierte. Mithilfe von im israelischen Staatsarchiv recherchierten Dokumenten konnte Jütte nun auch einige Informationen über seinen dortigen Aufenthalt zwischen 1944 und 1947 gewinnen. Aus einem Antrag auf Ausstellung eines palästinensischen Passes von Ernest-Louis Chambré, wie er sich später nannte, geht etwa hervor, dass er im Februar 1944 mit einem Laissez-passer von Madrid nach Haifa emigrieren konnte. Am 16. Juni 1946 erhielt er sogar die palästinensische Staatsangehörigkeit („Certificate of Naturalization“). Wie aber die Bekanntschaft zwischen Chambré und den Sterns zustande kam und wie der Reiseführer aus den USA wieder nach Deutschland gekommen ist, bleibt weiterhin unbekannt.

Diese Enthüllung war nicht nur, aber vor allem für Prof. Dr. Sascha Feuchert eine besondere Überraschung. Die 1997 gegründete Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich fördert nicht nur Projekte und Publikationen der Arbeitsstelle Holocaustliteratur, sondern unterstützt auch die Finanzierung der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftungsprofessur für Neuere Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Holocaust- und Lagerliteratur sowie ihre Didaktik am Institut für Germanistik der JLU Gießen, die Feuchert seit 2017 innehat. Zudem erscheint seit 2015 die gemeinsame Schriftenreihe der AHL mit der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich im Berliner Metropol Verlag. So schließe sich nun gewissermaßen ein Kreis, fasste Jütte den ersten Teil der Lesung zusammen.

Im Anschluss gab Dr. Olaf Schneider (Leiter der Sondersammlungen der UB Gießen) Einblicke in die NS-Raubgutbände aus jüdischem Besitz, die im Zuge der Recherchen, die durch die 1998 auf einer internationalen Konferenz in Washington verabschiedeten Principles with Respect to Nazi-Confiscated Art angestoßen wurden, in den Beständen der UB gefunden wurden. Unter „Raubgut“ werden dabei alle unrechtmäßigen – auch die vordergründig legalen, d.h. mit den Nazi-Gesetzen konformen – Sammlungserweiterungen von 1933 bis 1945 verstanden. Ein Teil des Raubgutbestands der UB wird heute im Oskar-Singer-Raum im ersten Obergeschoss der Universitätsbibliothek aufbewahrt und steht für Forschungszwecke zur Verfügung. Darunter befinden sich auch zahlreiche Bände aus der theologischen Bibliothek des Gießener Rabbiners Dr. David Sander, die Schneider an diesem Abend exemplarisch vorstellte. Ein Bericht über das aufwendige Forschungsprojekt zu den NS-Raubgutbeständen der Gießener Universitätsbibliothek sowie über die Bibliothek des Rabbiners Sander ist in der aktuellen Ausgabe der Zeitung der Justus-Liebig-Universität Gießen „uniforum“ (36. Jahrgang, Nr. 5, S. 11) erschienen und kann hier abgerufen werden.

Der Abend zeigte so eindrucksvoll, dass Bücher weit mehr Geschichten erzählen können als jene, die „nur“ auf textlicher Ebene präsentiert werden: Die in ihnen hinterlassenen Besitzvermerke und Gebrauchsspuren sind, wie auch Jütte betonte, eine Botschaft aus der Vergangenheit, eine Art „Zeitkapsel“ (Andy Warhol), die es zu erkennen und zu deuten gilt.

Wir bedanken uns herzlich bei unseren Gästen und den zahlreichen Mitwirkenden für einen spannenden Abend und einen rundum gelungenen Abschluss des Jubiläumsjahres 2023!


Die Veranstaltung fand auch in den Printmedien Beachtung. So ist am 16. Dezember 2023 unter dem Titel „Lesung mit einer Riesenüberraschung“ ein Bericht von Dagmar Klein in der Gießener Allgemeine Zeitung (Nr. 293, S. 35) erschienen. Auch der Gießener Anzeiger (Nr. 296, S. 22) veröffentlichte am 20. Dezember 2023 einen Artikel von Jan Schneider, der unter dem Titel „Widmung führt zu Stiftungsgründer“ hier abrufbar ist. 


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