am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

′Eine ungewöhnliche Spionin′: Marthe Cohn war zu Gast an der Arbeitsstelle Holocaustliteratur - Artikel am 5. Dezember 2018 in der Gießener Allgemeinen Zeitung erschienen

04.12.2018

3. Dezember 2018

98 Jahre alt ist Marthe Cohn, die am 3. Dezember 2018 zusammen mit ihrem Ehemann Major Cohn zu Besuch an der Arbeitsstelle Holocaustliteratur war. Vor mehr als 50 Studierenden sprach sie über ihr spannendes und mehr als ungewöhnliches Leben als französisch-jüdische Spionin im nationalsozialistischen Deutschland. Getarnt als deutsche Krankenschwester erkundete sie wenige Monate vor Kriegsende im Auftrag der französischen Armee im nationalsozialistischen Deutschland Truppenbewegungen und sammelte kriegswichtige Informationen. Dabei geriet sie mehr als einmal in lebensgefährliche Situationen, denen sie nur dank ihrer Schlagfertigkeit und ihres Mutes, aber auch immer wieder durch Glück entkommen konnte.

Von einigen dieser Situationen erzählte sie den Studierenden. Nach einer knappen Einführung durch Moderatorin Charlotte Kitzinger (AHL) beantwortete sie über eine Stunde lang deren zahlreiche Fragen, unterstützt von ihrem Ehemann, der bei Veranstaltungen immer an ihrer Seite ist und als ihr „Souffleur“ fungiert, wie Marthe Cohn humorvoll erklärte. Die Zuhörer erfuhren, dass Marthe Cohn 1920 in Metz, nahe der französisch-deutschen Grenze, in eine orthodoxe jüdische Familie geboren wurde. Sie war das fünfte von sieben Kindern. Innerhalb der Familie wurde vor allem Deutsch gesprochen, da Metz von 1871 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs deutsch gewesen war. Diese Zweisprachigkeit ermöglichte es Marthe Cohn später auch, sich für ihre Spionagetätigkeit als Deutsche zu tarnen. Als die Bedrohung durch die Nationalsozialisten auch in Frankreich immer greifbarer wurde, floh die Familie in den Süden Frankreichs nach Poitier, das jedoch 1940 von den Deutschen eingenommen wurde. Die Familie bemühte sich, Juden bei der Flucht ins nichtbesetzte Frankreich zu helfen und Marthes Geschwister engagierten sich teilweise im Widerstand. Der Bruder Fred und die Schwester Stéphanie wurden – so wie viele andere Familienmitglieder – in einem Internierungslager für politische Gefangene und ausländische Juden inhaftiert. Stéphanie wurde nach Drancy und Pithiviers deportiert und später in Auschwitz ermordet.

Zunehmend wuchs in Marthe der Wunsch und das starke Bedürfnis, ebenfalls aktiv Widerstand zu leisten und sich den Deutschen zu widersetzen. Inzwischen hatte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen. Nachdem ihr Verlobter Jaques Delaunay aufgrund seiner Widerstandstätigkeit hingerichtet worden war, versuchte sie selbst der Résistance beizutreten. Dort wurde sie jedoch zunächst abgelehnt, „denn man nahm mich dort als kleine, junge, sehr blonde Frau von 1,50 Körpergröße einfach nicht ernst“, so schmunzelt Marthe Cohn. Schließlich gelang es ihr jedoch in das 151. Infanterieregiment aufgenommen zu werden. Sie wurde zunächst als Krankenschwester eingesetzt, schon bald jedoch aufgrund ihrer hervorragenden Deutschkenntnisse für eine Spionage-Einheit rekrutiert. Nun begann ihre ‚Ausbildung‘ zur Spionin – sie musste sich große Mengen Wissen aneignen, Karten lesen und Morsezeichen senden lernen, wie sie erzählt. Sie erlernte auch den Umgang mit Waffen, zu ihrem eigenen Erstaunen war sie eine gute Schützin. Dreizehn – zum Teil lebensgefährliche – Versuche benötigte sie dann, um überhaupt die feindlichen Grenzen nach Deutschland zu überqueren. Als deutsche Krankenschwester Martha Ulrich getarnt, gab sie vor, ihren Verlobten Hans in einer Fronteinheit zu suchen. Sie geriet jedoch in wahrhaft abenteuerlichen Situationen immer wieder in Lebensgefahr. Glück, Mut und Improvisationsvermögen gleichermaßen retteten ihr  das Leben, wie sie eindrücklich schilderte. Es gelang ihr, entscheidende Informationen über die Standorte von deutschen Militärlagern in der Gegend um Freiburg und dem Schwarzwald sowie Verteidigungspläne zu beschaffen und an ihre Einheit zu übermitteln. Dank dieser konnte der Angriffsplan der französischen Armee korrigiert und der Vorstoß in den Süden Deutschlands beschleunigt werden. Nach dem Krieg erhielt sie dafür das silberne und goldene Kriegskreuz der französischen Armeen sowie im Jahr 2000 die „Médaille militaire“. Ihr wurde zudem der Ehrentitel „Chevalier“ der Französischen Ehrenlegion verliehen, 2006 die „Médaille de la Reconnaissance francaise“ und 2014 das deutsche Bundesverdienstkreuz. Diese Medaillen und Auszeichnungen hatte Marte Cohn auch nach Gießen mitgebracht, so dass die Studierenden am Ende der Veranstaltung die Gelegenheit hatten, sich diese anzuschauen.

Erst spät hat Marthe Cohn, die seit vielen Jahrzehnten mit ihrer Familie in den USA lebt, überhaupt von ihrer Tätigkeit und ihren Erlebnissen als Spionin erzählt. 2002 hat sie zusammen mit Wendy Holden ihr englisches Buch unter dem Titel „Behind Enemy Lines: the True Story of a French Jewish Spy in Nazi Germany" herausgegeben. In diesem Jahr ist die deutsche Übersetzung unter dem Titel „Im Land des Feindes. Eine jüdische Spionin in Nazi Deutschland“ im Frankfurter Schöffling-Verlag erschienen.

Das Gespräch an der Arbeitsstelle Holocaustliteratur, das in englischer Sprache stattfand, wurde für einen kurzen Beitrag der Deutschen Welle zu Marthe Cohn, der am 27. Januar 2019 ausgestrahlt werden soll, aufgezeichnet.
Ein Artikel zum Besuch von Marthe Cohn ist am 5. Dezember 2018 in der Gießener Allgemeinen Zeitung erschienen. Zum Artikel gelangen Sie hier.

Marthe Cohn: Im Land des Feindes. Eine jüdische Spionin in Nazi Deutschland.
Frankfurt am Main: Schöffling & Co., 2018.
408 Seiten, 26,00 Euro
ISBN 978-3-89561-667-9


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Arbeitsstelle Holocaustliteratur
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