„Immer sind Menschen an Orte migriert, an denen schon Freunde oder Verwandte wohnten“ (S. 71), schreibt die Autorin, Redakteurin und Herausgeberin Nadine Olonetzky. Viele Jahre zuvor traf das auch auf ihren Großvater Moritz Olonetzky zu, der von Odessa nach Stuttgart zog, wo bereits sein Cousin wohnte. In Stuttgart lebte Moritz zunächst mit seiner Frau Malka und seinen Kindern Anna, Paula, Efrem, Avram und Benjamin. Seine Frau starb dort 1921, da war ihr jüngstes Kind Benjamin gerade vier Jahre alt. In Stuttgart führte Moritz einen Tabakhandel. Obwohl Sohn Benjamin bereits in Stuttgart geboren wurde, blieb er staatenlos, da seine jüdischen Eltern zunächst die russische Staatsangehörigkeit besaßen und später staatenlos wurden. Eine eigene Staatsbürgerschaft erhielt Benjamin erst 1957.
Während von Nadine Olonetzkys Familie mütterlicherseits Erinnerungsstücke, Erbstücke und Geschichten hinterlassen sind, ist von der Familie ihres Vaters Benjamin nur ein kleines Foto zurückgeblieben. Nadine ist fünfzehn, als sie auf einer Parkbank im Botanischen Garten in Zürich von ihrem Vater ein wenig von dem erfährt, was dieser während der Shoah mitgemacht hat. Sie ist zu jung, um das Ausmaß der Geschehnisse zu verstehen und vielleicht auch damit überfordert, weitere Nachfragen zu stellen. Dennoch ist dieses Gespräch der Ausgang der Familiengeschichte Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist.
Lange nach dem Tod ihres Vaters sichtet die 1962 geborene Journalistin und freie Autorin mehr als 2000 Seiten an Dokumenten, die das Schicksal ihrer Familie während der Shoah betreffen. Die Dokumente sind voller Schreibfehler, vor allem die Namen von Opfern und Tätern sind davon betroffen, sodass es mitunter schwer nachzuvollziehen ist, wer in den Schriftstücken genau gemeint ist. Während ihre Tante Paula und ihre Onkel Efrem und Avram noch rechtzeitig nach Palästina ausreisen konnten, blieben ihr Vater Benjamin, dessen Schwester Anna und Vater Moritz in Deutschland zurück. Benjamin und Moritz wurden „dienstverpflichtet“, das heißt, sie mussten Zwangsarbeit leisten. Moritz musste als Stanzer in einer Absatzfabrik arbeiten, durfte aber zunächst in seiner Wohnung in Stuttgart wohnen bleiben. Doch 1941 war er gezwungen, diese zu verlassen, wertvolle Gegenstände im Pfandleihhaus herzugeben und mehrfach in vorgeschriebene Sammelunterkünfte zu ziehen. Zu der Zeit war er allein, denn seine Tochter Anna hatte schon früh geheiratet und war nach Berlin gezogen. Sein Sohn Benjamin war vorübergehend im Arbeitslager in Bielefeld. Er kam hiernach zurück nach Stuttgart und wurde dort sofort zur Zwangsarbeit im Straßenbau eingezogen. Anna wurde 1941 in Berlin zusammen mit ihrem Mann Herbert und ihrem Sohn Michael verhaftet und in das Getto Lodz/Litzmannstadt deportiert. Von dort wurden sie 1942 in das Vernichtungslager Kulmhof deportiert und ermordet. 1942 wurde Moritz Olonetzky auf der Deportationsliste unter der Nummer 1604 geführt und in das polnische Transitlager Izbica in Polen deportiert, wo sich seine Spur verliert und er wahrscheinlich sofort „umkam“, wie es Benjamin Jahrzehnte später formulierte.
Nadine Olonetzky reist im Zuge ihrer Recherchen viele Jahre später nach Izbica und besucht den Ort, an dem so viele Menschen starben oder von dem aus sie weiter deportiert wurden und an dem heute kaum noch etwas an die damaligen Geschehnisse erinnert. Auch den russischen Heimatort ihrer Familie besucht sie, ebenso wie Odessa und Stuttgart, wo sie sich erfolgreich für die Verlegung von Stolpersteinen für ihre Familie einsetzen kann.
Benjamin konnte zusammen mit seiner Frau Hanna Kesting, die er im Arbeitslager kennengelernt und dort auch geheiratet hatte, fliehen. Doch zunächst kehrten die beiden nach der Entlassung aus dem Arbeitslager zurück nach Stuttgart, wo Benjamin zu seinem Vater ins „Judenhaus“ ziehen und bis 1943 in Stuttgart weiter Zwangsarbeit im Straßenbau leisten musste. Dann sollte auch Benjamin deportiert werden, woraufhin er mit seiner Frau über Wuppertal und Frankreich in die Schweiz fliehen kann. Dort mussten die beiden unter schwierigen Verhältnissen leben, Benjamin war zudem gesundheitlich angeschlagen. Die Ehe der beiden scheiterte schließlich und wurde 1953 einvernehmlich geschieden. Benjamin heiratete wenig später ein weiteres Mal und bekam zwei Töchter. Als Nadine dreizehn Jahre alt war, ging jedoch auch die Beziehung ihrer Eltern kaputt, und sie verlor zeitweise den Kontakt zu ihrem Vater. Ihr Verhältnis zueinander war oft schwierig, sie schreibt vom „Jähzorn“ ihres Vaters, und auch zu seinen übrigen Geschwistern hatte Benjamin später keinen Kontakt mehr.
Nach dem Tod ihres Vaters erfährt Nadine, dass dieser mit seinen Geschwistern von 1950 bis 1974 mit dem „Landesamt für Wiedergutmachung“ korrespondierte. Nadine Olonetzky zeigt anhand der Dokumente, wie langwierig, kräftezehrend und ernüchternd der Kampf um Minimalzahlungen war und wie wenig er letztlich gebracht hat.
Dass die Autorin sich, außer für die eigene Familiengeschichte, auch sehr für Gärten und deren Veränderungen interessiert und sie sogar bereits zwei Sachbücher über Gartenkulturgeschichte veröffentlicht hat, ist ein weiteres tragendes Element des vorliegenden Buches. So findet sich in fast jedem Kapitel auch eine Beschreibung ihres Gartens und seines Wandels im Laufe der Jahreszeiten. Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist bewahrt die Familiengeschichte der Familie Olonetzky vor, während und nach der Shoah. Beispielhaft für viele andere Schicksale steht dabei die Sprachlosigkeit des Vaters, der nur ein einziges Mal die Worte fand, um seiner Tochter wenig von dem zu berichten, was er erleben musste. Um die Lücken zu füllen, die diese Sprachlosigkeit sowie die unvollständigen Dokumente hinterlassen haben, stellt Olonetzky viele Vermutungen darüber an, wie sich ihre Familienmitglieder gefühlt und was sie erlebt haben könnten.
Nadine Olonetzky: Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist
S. Fischer Verlage, 2024
448 Seiten, 25 Euro
ISBN: 978-3-10-397590-1