am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Françoise Frenkel: Nicht, um sein Haupt zu betten

Die Erinnerungen von Françoise Frenkel sind eine literarische Flaschenpost, die den Leser nun mehr als sieben Jahrzehnte nach ihrem Entstehen erreicht. Das Buch, das bereits 1943/44 „am Ufer des Vierwaldstädter Sees“ (S. 12) geschrieben wurde und im September 1945 erstmalig und einmalig in der Schweiz im Verlag Jeheber auf Französisch unter dem Titel „L’aventure vient de la mer“ erschien, wurde von dem französischen Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano „auf einem Trödelmarkt der Emmaus-Bruderschaft gefunden“ (S. 5), wie es im Vorwort heißt. 2015 gab er das Buch in Paris im Verlag Édition Gallimard – bis auf einige Tippfehler und sprachlichen Ungenauigkeiten bereinigt – in der Originalausgabe von 1945 heraus.

In ihren Aufzeichnungen erzählt die polnische Jüdin Françoise Frenkel in weiten Teilen autobiographisch. Es ist jedoch nur wenig über ihr Leben bekannt. Unter dem Namen Frymeta Idesa Frenkel wird sie am 14. Juli 1889 in Piotrków in Polen geboren. Nach dem Studium in Paris eröffnet sie 1921 die erste und einzige französische Buchhandlung in Berlin.  Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wird die Situation für sie immer bedrohlicher und 1939 muss Frenkel ihr Geschäft schließen und entkommt kurz vor Kriegsausbruch in letzter Sekunde nach Frankreich. Als sich die Dinge auch dort zuspitzen, reist sie weiter nach Avignon und später nach Nizza. Immer wieder entkommt sie nur knapp der Verhaftung, vor allem die zeitweise liberalere Judenpolitik in den südostfranzösischen Departements durch die Italiener bringt kurzfristig Erleichterung vor der vier Jahre andauernden Furcht vor Deportation. Dank des Friseur-Ehepaars Marius in Nizza, das zum zuverlässigen und mehrmals lebensrettenden Unterstützer wird, findet sie über Monate immer wieder Unterschlupf bei verschiedenen Helfern in der Südzone, bis ihr – beim dritten Versuch und nach einer kurzen Gefängnishaft in Annecy – im Juni 1943 die Flucht über die Schweizer Grenze gelingt. Hier beginnt sie ziemlich bald mit den Aufzeichnungen ihrer Erlebnisse, die sie, wie sie in einer Vorbemerkung schreibt, als „Pflicht der Überlebenden“ sieht „Zeugnis abzulegen, damit die Toten nicht vergessen, noch Hilfsbereitschaft und Aufopferung Unbekannter missachtet werden“ (S. 13).  

Die Aufzeichnungen enden mit der Flucht in die Schweiz. Über das Leben von Françoise Frenkel danach und nach dem Krieg ist, so legt Patrick Modiano in seinem Vorwort dar, nur sehr wenig bekannt. Ende 1945 kehrte sie vermutlich nach Nizza zurück, wo sie am 18. Januar 1975 starb. Auch weicht ihr Leben in Berlin vor dem Krieg wohl in entscheidenden Details von den Schilderungen in ihrem Buch ab. So führte Frenkel die Buchhandlung von 1921 bis 1933 offenbar gemeinsam mit ihrem Mann Simon Raichenstein, der Berlin im November 1933 verließ und nach Frankreich ging. Im Juli 1942 wurde er in Paris während einer Razzia verhaftet und am 24. Juli aus Drancy deportiert. Er starb am 19. August in Auschwitz-Birkenau.
Ungeachtet der Tatsache, dass Frenkel – aus welchen Gründen auch immer – in ihren Aufzeichnungen wesentliche Details ihres Lebens umgestaltete, erzählt dieses Zeugnis die Geschichte einer heute längst vergessenen Frau, deren Leben in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich war. Ihre große Liebe zur Literatur, vor allem zur französischen Literatur, wurde bereits im Elternhaus gefördert und unterstützt: „Zu meinem sechzehnten Geburtstag erlaubten meine Eltern mir, eine Bibliothek ganz nach meinem Geschmack in Auftrag zu geben. Ich ließ, nach meinem, Entwurf, einen Schrank bauen, der zum Erstaunen des Tischlers vier verglaste Seiten haben sollte. Dieses Möbelstück meiner Träume stellte ich in die Mitte meines Zimmers“ (S. 15). Die Beschäftigung als Buchhändlerin ist daher „die einzige, die für mich zählte“ (S. 20). Gegen nahezu jeden Rat geht sie das Risiko ein, eine Buchhandlung in Berlin-Charlottenburg zu eröffnen, die ausschließlich französische Literatur führt. Diese ist – jedenfalls überwiegend – so rentabel, dass sie über viele Jahre ihr Auskommen sichern kann, auch wenn ab 1935, „die ernsthaften Schwierigkeiten“ (S. 27) beginnen. Die Buchhandlung ist über viele Jahre ein Treffpunkt der frankophilen Elite und Liebhaber der französischen Literatur sowie auch der französischen Diplomaten in Berlin. Letzteres verhilft der Autorin sowohl von 1933 bis zur Ausreise 1939 zu einer relativen Sicherheit und dem Schutz vor nationalsozialistischen Übergriffen als auch zu einer Aufenthaltsgenehmigung für Frankreich.

Trotz ihrer – zumindest zunächst noch – relativen Sicherheit in Frankreich und vieler hilfsbereiter Menschen in ihrer Nähe, ist Frenkels Bericht geprägt um die Sorge um ihre Familie in Polen, von der sie nach Kriegsbeginn völlig abgeschnitten ist. Mit der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen ist sie als Jüdin wieder akut gefährdet. Frenkel hat, das wird deutlich, einen guten Überblick über die Geschehnisse in Deutschland und den besetzten Ländern, die sich aus dem „Zürcher Wochenblatt“ und der „Weltwoche“ hat: „Andere Nachrichten verbreiteten sich von Mund zu Kund, überquerten die Grenzen, trotzten jeder Zensur und Kontrolle, gelangten taufrisch und vor Grauen zitternd zu uns“ (S. 86). Dank der aufopferungsvollen und unermüdlichen Hilfe vor allem des Ehepaars Marius bleibt ihr die Deportation in ein Konzentrationslager erspart. Dennoch vermittelt ihr Zeugnis die ständige Gefahr und Angst der Gejagten und Ausgelieferten. Frenkel spricht drei Sprachen und fühlt sich sowohl ihrem Heimatland Polen, als auch ihren Wahlheimaten Frankreich und Deutschland sehr verbunden. Nun zählt jedoch nur noch, dass sie Jüdin ist, und sie daher in keinem der drei Länder mehr ein Zuhause hat.

Frenkels Verfolgungs- und Fluchtgeschichte verläuft vergleichsweise glimpflich. Dank der zahlreichen Helfer entgeht sie bis auf eine kurze Haftstrafe im Dezember 1942 wegen des Versuchs eines unerlaubten Grenzübertritts der Inhaftierung in ein Konzentrationslager. Was das bedeutet, darüber macht sie sich keine Illusionen: „Der Reichskanzler hatte geschworen, die jüdische Rasse ganz einfach auszurotten“ (S. 186). Daher verspürt sie Schuldgefühle, als sie einen Abtransport von Juden aus ihrem Hotel beobachtet, dem sie selbst nur durch einen Zufall und der Warnung einer Nachbarin entkommen ist: „Eine Sekunde lang spürte ich die Versuchung, zu dieser Ansammlung hinzulaufen und zu rufen: ‚Nehmt mich mit, ich gehöre zu ihnen!‘ Ein Gefühl tiefer Freude durchströmte mich bei diesem Gedanken der Solidarität und Aufopferung. Aber die kalte Logik gewann die Oberhand. […] Der Selbsterhaltungstrieb hatte mich gepackt. Die Bitterkeit dieser Wahrheit lastet heute schwer auf mir und wird immer auf mir lasten, bis ans Ende der Tage“ (S. 117). Auch die dramatische, aber gelungene Flucht in die Schweiz schildert sie nicht als triumphales und glückserfülltes Entkommen: was sie aus Frankreich mitbringt – so der letzte Satz des Buches – ist vor allem „ein verzweifeltes und todmüdes Herz …“ (S. 249).

Das Schreiben hat Frenkel nach diesem Buch – das wohl bei seinem Erscheinen nur wenig beachtet wurde, lediglich eine Rezension in der Zeitschrift Le Mouvement féministe: organe officiel de publications de l'Alliance nationale des société féministes suisses von 1946 ist offenbar bekannt – aufgegeben oder zumindest ist darüber heute nichts mehr bekannt. Umso schöner ist es, dass dieses Zeugnis, das in weiten Teilen einem Roman gleicht, uns heute die Erinnerung an diese besondere Frau zurückbringt.

Die deutsche Ausgabe enthält neben einem Vorwort von Patrick Modiano auch eine Zeittafel des Lebens von Françoise Frenkel sowie ein Dossier mit Fotos und Dokumenten aus den wesentlichen Stationen ihres Lebens.

Von Charlotte Kitzinger

 

Françoise Frenkel: Nichts, um sein Haupt zu betten.

München: Carl Hanser 2016.
285 Seiten. 22,00 Euro.
ISBN 978-3-446-25271-4.


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