am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Der schwedische Autor Steve Sem-Sandberg war am 18. Januar 2023 zu Gast an der AHL und sprach über sein Werk ′Die Elenden von Lodz′ (2011) sowie über fiktionale Holocaustliteratur

24.01.2023

18. Januar 2023

Am Mittwoch, den 18. Januar 2023, war der schwedische Schriftsteller Steve Sem-Sandberg digital zu Gast in der Vorlesung „Holocaust- und Lagerliteratur: Theorie – Geschichte – schulische Praxis“ von Prof. Dr. Sascha Feuchert, um mit Studierenden ein Gespräch über seinen erfolgreichsten Roman „Die Elenden von Lodz“ sowie über fiktionale Holocaustliteratur zu führen. An der Veranstaltung nahmen auch Studierende des Masterschwerpunkts „Holocaust- und Lagerliteratur“ teil. 

Nach Begrüßungsworten von Sascha Feuchert stellte Charlotte Kitzinger zunächst Steve Sem-Sandberg und sein literarisches Werk vor. Sem-Sandberg ist einer der renommiertesten skandinavischen Autoren und hat mit „Die Elenden von Lodz“, der 2009 auf Schwedisch und 2011 auf Deutsch erschienen ist, einen der bedeutendsten Romane über den Holocaust und das Getto Lodz/Litzmannstadt geschrieben. 2009 wurde das Werk mit dem Augustpreis (dem bedeutendsten schwedischen Literaturpreis) für das Belletristikbuch des Jahres ausgezeichnet und außerdem für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert. Im Oktober 2020 wurde Steve Sem-Sandberg auf den 14. Sitz der Schwedischen Akademie gewählt, die u. a. für die Vergabe des Literatur-Nobelpreises verantwortlich zeichnet.

„Die Elenden von Lodz“ ist ein Roman über das Getto Lodz/Litzmannstadt, das die Nationalsozialisten zwischen 1940 und 1944 in der polnischen Stadt Lodz errichteten und hier bis zu 160.000 Menschen auf etwas mehr als 4 Quadratkilometern zusammenpferchten. Der Roman, der neben der zentralen Figur des Judenältesten Mordechai Chaim Rumkowski multiperspektivisch das Leben zahlreicher, größtenteils vollständig fiktiver Gettobewohner schildert, stützt sich in wesentlichen Teilen auf die an der AHL editierte und 2007 im Wallstein Verlag herausgegebene Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt sowie auf zahlreiche Zeitzeugenberichte und Dokumente. Er beschreibt die Verelendung und das Sterben im Getto sehr detailliert und schafft eine Atmosphäre, die das Leben im Getto, den alltäglichen Überlebenskampf in dieser Zwangsgemeinschaft, anschaulich und „realistisch“ erscheinen lässt.

Dass sein Roman dabei keinesfalls den Anspruch erhebe, eine objektive und faktenbasierte Realität abzubilden, machte er im Gespräch sehr deutlich. Das sei auch nicht die Aufgabe von Fiktion. Vielmehr liege für ihn ihre Stärke darin, die menschliche Erfahrung, die Empfindungen und Gefühle hinter den Fakten und Dokumenten erfahrbar zu machen. Fiktion könne, so Sem-Sandberg, Vergangenes aus dem „Dann und Dort“ in das „Hier und Jetzt“ transportieren, um so die Vergangenheit lebendig und „gegenwärtig“ zu halten.

Die vielfältigen Fragen der Studierenden betrafen etwa die Konzeption seiner Romanfiguren, insbesondere die fiktionale Ausgestaltung der umstrittenen historischen Persönlichkeit des Judenältesten Rumkowski, sowie die Möglichkeiten und Grenzen von fiktionaler Holocaustliteratur. Auch wenn ein Romanautor einen anderen Blick als den rein faktischen auf historische Ereignisse werfe, dürfe er nicht lügen, betont Sem-Sandberg, sondern müsse sorgfältig mit den Dokumenten und Zeugnissen umgehen, auf die er sich stütze. Auch ein Roman erfordere vom Autor Quellenkritik, man könne mit diesen nicht nach Belieben verfahren. Ein Schriftsteller suche jedoch in den Dokumenten häufig durchaus nach anderen Dingen oder lese diese auf eine andere Weise. Denn ein Ereignis könne nicht nur aus einer Perspektive und auf eine einzige Weise betrachtet und erzählt werden.

Einige Romane und Filme würden den Holocaust zudem als ein Ereignis darstellen, das man überleben und überwinden könne. Da dies ohnehin nur für die wenigsten Opfer der Fall gewesen ist und der Holocaust für die Überlebenden immer gegenwärtig sei und nie der Vergangenheit angehöre, so sei es laut Sem-Sandberg auch Aufgabe der Literatur, das zu vermitteln.


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Arbeitsstelle Holocaustliteratur
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