am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Carl Laszlo: Ferien am Waldsee. Erinnerungen eines Überlebenden

„[W]as ich allein bezweifle, das ist, ob wir mit den Erfahrungen, die wir mit uns selber und den anderen gemacht haben, noch einmal einen Platz in der Welt finden werden. Ich meine, wenn das Unwahrscheinlichste eintreffen würde, dass jemand überlebt“ (S. 85). So heißt es an einer zentralen Stelle in Carl Laszlos (1923-2013) fiktionalisiertem Erlebnisbericht über seinen Überlebenskampf in verschiedenen Konzentrationslagern. Laszlo hat als ungarischer Jude das Getto Theresienstadt sowie mehrerer Konzentrationslager, darunter Auschwitz, Sachsenhauen und Buchenwald, überlebt. Seine Erinnerungen daran hat er zum ersten Mal 1955 unter dem Titel „Ferien am Waldsee“ im Selbstverlag veröffentlicht. Hermann Langbein zitiert in seiner Dokumentation „Menschen in Auschwitz“ von 1972 an mehreren Stellen aus Laszlos Werk. Insgesamt hat es jedoch wenig Beachtung erfahren, ebenso wenig wie die 1981 und 1998 durch den Autor selbst finanzierten Neuauflagen. 

Den Waldsee, auf den der Titel verweist, hat es in Wirklichkeit nicht gegeben, wie Laszlo in seinem Vorwort ausführt. Er sei allerdings unter einer Gruppe von Menschen, die aus Ungarn in die Konzentrationslager verschleppt wurden, dennoch bekannt gewesen. Einige ihrer Familienmitglieder hätten Postkarten mit vorgedrucktem Text und Unterschrift der Deportierten sowie einem Stempel „Am Waldsee“ erhalten. Für Laszlo ist der See vor allem als Sinnbild für „ein[e] gefährlich[e] Klarheit“ (S. 19) zu verstehen. Mit seinem „stillen, durchsichtigen Wasser“ (S. 19) spiegele er an seiner Oberfläche – wie die menschliche Seele – alles wider, aber keiner sehe den Grund. Man könne sich zu diesem See so hingezogen fühlen, dass man jährlich dorthin zurückkehren müsse wie zu einem Familiengrab. Dies, so legt Laszlo nahe, kann auch als Grund dafür betrachtet werden, warum er zehn Jahre nach Kriegsende „die grausamen Erinnerungen an die Konzentrationslager in Deutschland aus der oberflächlichen Vergessenheit“ (S. 19) wieder heraufhole. Er habe absichtlich so lange gewartet, führt er aus, um Abstand zu den Ereignissen zu gewinnen und darüber sprechen zu können. Die Aktualität der Ereignisse erscheine ihm jedoch weiterhin gegeben. Ein System, das die Konzentrationslager hervorbrachte, könne nicht einfach vom Himmel gefallen „und die Menschen damit schlagartig zu anderen Menschen geworden“ (S. 20) sein, aber ebenso naiv sei es zu glauben, „dass nachher alles ebenso rasch verschwinden und an den Menschen spurlos vorübergegangen sein könnte“ (S. 20).  

Laszlo erzählt in zehn Kapiteln episodenhaft einzelne Begebenheiten oder Begegnungen in den Lagern. Beginnend mit der nächtlichen Ankunft an der Rampe des Konzentrationslagers „an der schlesisch-polnischen Grenze“ (S. 51) – gemeint ist ganz offensichtlich Auschwitz – schildert er die besondere Rolle Mengeles unter den SS-Ärzten. „Wie ein Todesengel war er unermüdlich im Töten und Zertreten; überall wo die Menschenvernichtung vor sich ging, war er anwesend“ (S. 28). Er löst bei den Häftlingen gleichermaßen Faszination wie Schauer aus, bereits seine „schönen, regelmäßigen, wie aus Stein gemeißelten, kalten Züge schienen die Maske des Todes selber zu sein“ (S. 29f.). In einem weiteren Kapitel erinnert sich der Ich-Erzähler an ein junges deutsches ‚Zigeunermädchen‘ in Auschwitz-Birkenau, das ihn, als er krank und geschwächt im Krankenbau liegt, mit zusätzlichen kleinen Brotrationen versorgt – sie arbeitet in der Küche des Krankenbaus – und ihm so das Leben rettet. Sie wird zusammen mit den übrigen Gefangenen des ‚Zigeunerlagers‘ in Auschwitz-Birkenau eines Tages vergast. „In jener Nacht wurde ein Stück der alten Welt weggeschafft. Seit jener Nacht fehlen an den endlosen Straßen Europas manche Bettler und nackte Zigeunerkinder, manche Diebe und Musikanten“ (S. 42), so greift Laszlo in seiner Beschreibung auf – teilweise bis heute bestehende – stereotype Zuschreibungen und klischeehafte Bilder von Sinti und Roma zurück.

Im Kapitel „Romeo und Julia“ (S. 51), das die literarische Welt und die Realität des Protagonisten in unmittelbare Beziehung zueinander setzt, gelingt es dem Ich-Erzähler, sich etwas äußerst Seltenes zu ertauschen: ein Buch. Es ist ein schmutziges und zerrissenes Exemplar von Shakespeares weltbekanntem Klassiker. Die Lektüre nimmt er „in einem Neubau am Rande des Lagers, in einem monumentalen Massenabort aus Zement“ (S. 53) vor, während an der Rampe parallel ein großer Transport aus Theresienstadt ankommt und ein Großteil der Menschen unmittelbar in die Gaskammer geführt wird. Auf diese Weise bringt der Ich-Erzähler Verse aus dem Werk, die von ‚Flammen‘, ‚Rauch‘ ‚Feuer‘ und ‚Schmerz‘ sowie ‚Qualen‘ sprechen, mit der apokalyptischen Realität im Lager in unmittelbare Verbindung. Er parallelisiert diese zudem mit seiner eigenen tragischen Liebesgeschichte: „Lesend, mit dem Blick zwischen Rampe und Buch hin und her irrend, erschien in den Flammen wieder das Mädchen, das ich heiraten wollte“ (S. 59). Zu Beginn der Lagerhaft war er von ihr getrennt und sie von einem „Gendarmerieleutnant“ (S. 59) gerettet worden. Wie getrieben verschlingt der Protagonist die Seiten, während gleichzeitig das Feuer des Krematoriums immer heftiger lodert und ihn blendet. Als das Buch endet, ist auch die Selektion vorbei und die Rampe leer. Er wirft das Buch – von einem wilden Lachen gepackt, „wie das Schütteln des Wahnsinns“ (S. 61) – in den Abort und taumelt „müde, hungrig, schläfrig und irre“ (S. 62) zum Block und seinem Schlafplatz zurück. 

In beinahe allen Erzählungen wird der Freund des Ich-Erzählers Aliegeo erwähnt – ein ungarischer Jude, der im Krankenbau wie er selbst auch als Schreiber eingesetzt ist. Er erscheint dem Ich-Erzähler, „so fremd und doch verwandt“ (S. 63) und kann als das Alter Ego Laszlos verstanden werden, so legt der Herausgeber Albert C. Eibl im Vorwort dar. Aliego ist auch ein eigenes Kapitel gewidmet. Er betont einerseits mehrfach, „dass er nicht unglücklich sei, im Konzentrationslager gelandet zu sein, dass er um keinen Preis darauf verzichten würde, all dies gesehen zu haben“ (S. 64). Andererseits geht er davon aus, dass sie alle sterben werden. Er spreche zu einer Leiche von morgen, erklärt er dem Ich-Erzähler, und es spreche der Rauch vom Kamin des Krematoriums zu ihm. Überleben sei ohnehin im Grunde nicht möglich. Denn wie wolle man sich später in einer Welt zurechtfinden, wo man fremd sei, wie mit denen zusammenleben, die einen in das Lager deportieren ließen. Sowohl das Schweigen als auch das Sprechen über die Ereignisse erscheint demnach unmöglich. Stumm zwischen den Menschen umherzugehen, um von ihnen in Ruhe gelassen und ihnen nicht lästig zu werden, ist keine Option, denn: „Dein Mund wird Dir weh tun, und eines Tages wirst Du anfangen zu sprechen, und niemand wird verstehen, was Du eigentlich willst […], je mehr Du ihnen über die Konzentrationslager erklären wirst, umso weniger werden sie davon begreifen“ (S. 68f). Zwischen dieser und der anderen Welt sowie zwischen den Häftlingen und den übrigen Menschen habe sich eine „undurchdringbare Wand“ (S. 85) aufgerichtet, betont er an anderer Stelle.

Allerdings sind auch die Häftlinge untereinander keineswegs eine homogene Einheit. An mehreren Stellen schildert der Ich-Erzähler die interne Lagerhierarchie und die Privilegien der Funktionshäftlinge sowie die Mitleidslosigkeit und Brutalität, mit der manche privilegierte Häftlinge ihre Mitgefangenen behandeln. Insbesondere Aliego erzählt von jüdischen Häftlingen, die andere Juden kaltblütig und voller Hass in den Tod getrieben hätten. Sie selbst wüssten nach dem Krieg nicht mehr, wer sie seien, „Opfer oder Mörder, Ungarn oder Juden, Helden oder Kriminelle, Tote oder Lebende“ (S. 86). 

Die letzten Kapitel erzählen von der Auflösung des schlesischen Lagers und davon, wie der Ich-Erzähler in verschiedene andere Lager verschickt wird. In einem „Arbeitslager in Thüringen“ (S. 97) muss er bis zur vollständigen Erschöpfung im Steinbruch arbeiten, bis er von einem SS-Arzt, den er aus Auschwitz kennt, zum Schreiber des Krankenbaus bestellt wird. So kann er aus einer – relativ – privilegierten Position das Leben und vor allem Sterben im Lager beobachten. Hier kommt er auch in Berührung mit Phänomenen, „die ans Okkulte grenzen“ (S. 109). Er wird durch einen älteren deutschen Häftlingsarzt, der ins Lager gelangt ist, weil er Abtreibungen vorgenommen hat und sich hier als astrologischer Berater des Lagerkommandanten betätigt, zum Schreiben von Horoskopen für den Lagerführer auserwählt. Nach einem Todesmarsch, einer Flecktyphuserkrankung und endlosen Fahrten in offenen Zügen, in denen die Menschen ohne Unterlass sterben, gelangt er schließlich in ein befreites Lager an der deutsch-tschechischen Grenze. Er ist am Ende seiner Kräfte und dem Tode nahe. Hier begegnet er ein letztes Mal Aliego, der ebenfalls zum Gespenst abgemagert und offensichtlich schwer krank ist. Er wird, so wird nahegelegt, nicht überleben. Auch der Ich-Erzähler ist zu einem „lebenden Leichnam“ (S. 125) geworden, dem das Überleben zunächst gleichgültig ist. Zwei Kräfte hätten ihn gelockt – „der Selbstmord als logische Konsequenz und letzte Befreiung“ (S. 126) und das Leben mit seinen Hoffnungen und Versprechungen. Er sei am Leben geblieben, warum, wisse er nicht. „Man kann den Überlebenden nicht darüber verhören, was die Befreiung ihm im Grunde bedeutete; er wird es nicht wissen. Man kann ihn nicht fragen, warum er weiterlebe; er wird nur lächeln. Aber dieses Lächeln kann ihm keiner mehr nehmen“ (S. 127), so lautet der letzte Satz der Erzählung, der offen lässt, wie dieses Lächeln konkret gemeint ist. Er kann jedoch – vor allem im Hinblick auf Laszlos Lebensstil nach dem Krieg – als Hinweis darauf verstanden werden, dass Laszlo sich nicht als Opfer verstanden wissen wollte. In einem Gesprächsausschnitt, den 3sat Kulturzeit im Januar 2021 im Rahmen eines Beitrag zu Laszlo und seinem Werk „Ferien am Waldsee“ zeigte, sagte er etwa: „Ich bin nicht bereit, wegen einem Hitler ein unglücklicher Mensch zu sein. Das lass ich mir nicht antun.“
Sein Leben war nach Kriegsende von einem ‚radikalen Hedonismus‘ geprägt, einem exzentrischen und ausschweifenden Lebensstil, der „singulär auf Genuss, Schönheit, auf Rausch, auf allenfalls durch kurze Schlafpausen unterbrochene Dauerekstase ausgerichtet“ (S. 131) war, wie der Bild-Journalist und Schriftsteller Alexander von Schönburg im Nachwort schreibt. Er kannte Laszlo persönlich über viele Jahrzehnte. Laszlo hatte, so schildert von Schönburg weiter, erotisch konnotierte Lehrer-Schüler-Verhältnisse zu jungen Männern, die er in seinen Erinnerungen „Epheben“ (S. 133) nannte, nahm regelmäßig Kokain, LSD und Haschisch zu sich und saß wegen Kokainbesitzes sogar 1986 einige Wochen in Haft. Als angesehener Kunstsammler und Schriftsteller war er über seinen Wohnort Basel hinaus bekannt. 

In „Ferien am Waldsee“ geht es Laszlo nicht darum, ein heroisches Bild der Häftlinge zu zeichnen oder diese zu idealisieren. Auch um Mitleid für seinen Protagonisten (und sich selbst) wirbt er darin nicht. Er bietet vielmehr eine Mischung aus sachlicher Beobachtung, persönlicher Erfahrung und Innenschau an, die durch die Gespräche mit Aliego um eine weitere Perspektive ergänzt werden. Es gelingt ihm immer wieder mit nur wenigen Sätzen, eindringliche Unmittelbarkeit und beklemmende Atmosphäre herzustellen. Gleichzeitig weist der Erzählstil mitunter – durchaus nicht untypisch für Werke der Holocaustliteratur aus diesem Entstehungszeitraum – einige Pathoselemente auf. Diese werden bedauerlicherweise durch die Covergestaltung der Neuausgabe noch betont. Der Buchumschlag zeigt einen stillen Waldsee mit einem einsamen Ruderer darauf. Ein Steg, der in den See hineinragt, erinnert an die Schienen, die auf das Torhaus in Auschwitz-Birkenau zuführen. Auf dem Cover lenken sie den Blick auf den KZ-Eingang hinter dem See, der von einem riesigen aufgehenden Mond umrahmt wird. Der nächtliche Himmel darum ist in ein flammendes Rot getaucht, das sich in der Oberfläche des Sees widerspiegelt und wohl auf die Flammen des Krematoriums verweisen soll, die auch im Werk selbst ausführlich thematisiert werden.  

Gewidmet ist das Werk dem Berliner jüdischen Arzt Benno Heller, der zusammen mit seiner nicht-jüdischen Frau in seiner Praxis in Berlin-Neukölln bis in die Kriegsjahre hinein Abtreibungen vornahm und jüdischen Patientinnen ab 1941 half unterzutauchen. Er wurde nach einer Denunziation 1943 nach Auschwitz deportiert, wo er im sogenannten ‚Zigeunerlager‘ arbeiten musste. Nach dessen Auflösung wurde er im Juli 1944 weiter nach Sachsenhausen deportiert sowie in andere Lager. Er hat die Lager nicht überlebt. 

Die im Oktober 2020 publiziert Neuausgabe von „Ferien am Waldsee“, die auch einige Portraits Carl Laszlos enthält, ist inzwischen bereits in zweiter Auflage erschienen. 

Von Charlotte Kitzinger (Arbeitsstelle Holocaustliteratur, JLU Gießen)

Carl Laszlo: Ferien am Waldsee. Erinnerungen eines Überlebenden.
Herausgegeben und mit einem Geleitwort von Albert C. Eibl
Mit einem Nachwort von Alexander von Schönburg
Wien: DVB Verlag, 2020
ISBN 978-3-903244-04-7


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