am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Anne Berest: Die Postkarte

von Tessa Schäfer

Plötzlich liegt sie da, die Postkarte. Zwischen der anderen Post, an einem gewöhnlichen Januarmorgen. Ohne Absender oder sonstige Hinweise auf die verfassende Person. Die Schrift wirkt unbeholfen und das Einzige, was auf der Karte steht, sind vier Namen: Ephraïm, Emma, Noémie und Jacques. Es sind die Namen von Lélias Großeltern mütterlicherseits, ihrer Tante und ihres Onkels. Alle vier wurden zwei Jahre vor Lélias Geburt deportiert und sind 1942 in Auschwitz getötet worden.

Am 6. Januar 2003, also 61 Jahre später, tauchen diese Namen unverhofft im Briefkasten des überlebenden Teils der Familie Rabinovitch, die mittlerweile einen französischen Namen trägt, wieder auf. Es ist der Beginn einer spannenden Spurensuche innerhalb der eigenen Familie, die viel aufwühlt und Neues hervorbringt.

2003 kann in der Familie niemand etwas mit der Karte anfangen und so landet sie erst einmal in einer Schublade. Zehn Jahre später zieht Lélias Tochter Anne kurz vor der Entbindung ihres Kindes für eine kurze Zeit wieder in ihr Elternhaus. Es beginnt ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter, das die Grundlage des Romans Die Postkarte bildet. Der Roman verbindet im Dialog geschickt die historische mit der gegenwärtigen Ebene und erzählt die Geschichte der Familie Rabinovitch in drei Teilen.

Den Anfang machen Ephraïm und seine Verlobte Emma. Die beiden lebten 1919 in Moskau. Beide stammen aus jüdischen Familien, doch Ephraïm hat schon früh mit der Religion seiner Eltern, Nachman und Esther, gebrochen. Bei einem Familientreffen eröffnen Ephraïm und seine Verlobte, dass Esther schwanger ist. Nachman wiederrum teilt seiner Familie mit, dass es Zeit ist, das Land zu verlassen, da es für Juden in Russland zunehmend unsicherer wird. Das Familienoberhaupt hat beschlossen, gemeinsam mit seiner Frau nach Palästina zu gehen, um dort Orangen anzubauen. Von Europa rät Nachman seinen Kindern ab. Er versucht sie dazu zu bringen, mit nach Palästina zu kommen oder nach Amerika zu gehen. Nicht alle lassen sich aber dazu überreden und so möchte Emmanuel, Ephraïms jüngster Bruder, lieber nach Paris gehen.

Nachdem die Familie um Ephraïm, die mittlerweile um zwei weitere Kinder gewachsen ist, mehrfach ihren Lebensmittelpunkt gewechselt hat, wird vor allem Ephraïm klar, dass er an ihrem momentanen Wohnort in Palästina nicht wirklich glücklich ist. Er vermisst Europa und so beschließt die vierköpfige Familie nach Paris zu gehen. Nachman hält dies für eine sehr schlechte Idee, doch Ephraïm lässt sich nicht davon abbringen und so beginnt für die Familie ab Sommer 1929 ein neues Leben in Europa. Die Kinder lernen die französische Sprache schnell und feiern schulische Erfolge. Doch nur wenig später hört und liest Ephraïm von der für Juden immer schwieriger werdenden Lage in Deutschland. Er kann sich aber nicht vorstellen, dass dies auch sein Leben in Frankreich beeinträchtigen sollte und bemüht sich weiter um die Erlangung der französischen Staatsbürgerschaft. Über die Jahre gibt es immer mehr häufiger Anzeichen, dass es auch in Frankreich gefährlich werden könnte – Flüchtlinge aus Deutschland kommen an, Bekannte aus anderen Teilen Europas fliehen über Frankreich nach England oder Amerika – doch Ephraïm bleibt in Frankreich. Die Familie zieht aufs Land in ihr Ferienhaus nach Les Forges in die Normandie.

Die älteste Tochter Myriam ist mittlerweile eine junge Studentin und lernt in Paris Vincente kennen und lieben. Die beiden heiraten 1941 und Myriam zieht zu ihm nach Paris. Ihre restliche Familie bleibt in Les Forges. Ephraïm hat inzwischen eine Ausreise in Erwägung gezogen, doch sind die meisten Wege, gerade für staatenlose Juden, versperrt. Während Myriam und Vincente in Paris zwar mit Ausgangssperre dennoch ein relativ normales Leben führen können, leben ihre Eltern und Geschwister immer mehr wie in einem Gefängnis. Nachdem Myriam nachts in einem Lokal nach einer Ausweiskontrolle von der Polizei festgenommen wurde, ließ ein Polizist sie laufen, verlangte aber, dass sie zu ihrer Familie nach Les Forges fährt. Am Abend des 13. Juli 1942 stehen dann drei deutsche Soldaten und zwei französische Gendarmen vor der Tür, um die Geschwister Noémie und Jacques abzuholen. Sie werden zunächst in das Lager Pithiviers gebracht. Noémie kann dort als Pflegerin arbeiten, aber der 16-jährige Jacques findet sich nur sehr schlecht zurecht. Als er in ein anderes Lager gebracht werden soll, schließt sie sich ihm an und so werden beide nach Auschwitz deportiert. Am 8. Oktober 1942 werden auch die Eltern deportiert.

Myriam flieht nach der Verhaftung ihrer Geschwister mit dem Fahrrad zurück nach Paris. Wenig später gehen Vincente und sie in den Untergrund und engagieren sich für die Resistance, genau wie Vincentes Mutter und Schwester. Sie fliehen aus Paris und leben eine Zeit lang in einem abgelegenen Haus in den Bergen.

In der Gegenwart versuchen Lélia und Anne das ehemalige Haus ihrer Groß- bzw. Urgroßeltern in Les Forges zu finden. Dort entwickelt sich die Spurensuche fast zu einem Krimi – die aktuellen Besitzer verhalten sich merkwürdig, anonyme Anrufe erreichen die beiden und ein Briefumschlag taucht ohne Absender auf. In Les Forges finden die beiden ehemalige Möbelstücke der Familie, an denen sich nach der Verhaftung von Ephraïm und Emma andere Familien bereichert hatten, und hören Erinnerungen von Zeitzeug:innen. So finden die beiden viele spannende Details über ihre Familiengeschichte heraus, die bisher im Dunkeln geblieben waren.

Die Postkarte ist ein packendes Stück Erinnerungsliteratur. Der Roman lässt die Geschichte einer ganzen Familie wiederaufleben und beruht auf wahren Begebenheiten. Berest schafft es, die eigene Familiengeschichte durch zahlreiche historische Fakten zu ergänzen und schweift damit dennoch nicht in Langatmigkeit ab.

 


Die Postkarte – Anna Berest
544 Seiten
Berlin Verlag, 2023
28 Euro
ISBN: 978-3-8270-1464-1

 


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