am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Uri Orlev: Lauf, Junge, lauf

Der Roman "Lauf, Junge, lauf" von Uri Orlev liest sich, als sei die Geschichte des kleinen jüdischen Jungen, der sich im Zweiten Weltkrieg alleine durchschlägt, schlichtweg erfunden. Sie ist so grausam und zeigt so sehr den Lebenswillen eines Kindes, dass man als Leser kaum glauben kann, dass dies tatsächlich die wahre Geschichte eines heute alten Mannes ist. Dieser Mann ist Joram Friedmann. Als fünfjähriger Junge erlebte er den Beginn des Zweiten Weltkrieges, im Alter von acht Jahren verlor er seine Eltern im Warschauer Ghetto. Später erzählte Friedmann, inzwischen 35-jährig, in Israel von seiner Vergangenheit. Der Autor Uri Orlev saß im Publikum und hörte Friedmanns Geschichte, die ihn fortan nicht mehr los ließ. Orlev selbst hat das Warschauer Ghetto und das Konzentrationslager Bergen-Belsen überlebt.

Orlev beschreibt Friedmanns Leben als Waisenkind, das im besetzten Polen über Jahre um sein Überleben kämpfte. Der verfolgte Junge im Roman trägt den Namen Srulik. Schon zu Beginn des Romanes ist er im Warschauer Ghetto und sucht gemeinsam mit seiner Mutter im Müll nach etwas Essbarem. Eines Tages verschwindet die Mutter spurlos. "Der Riss in seinem Herzen wurde größer, wurde zu einem Abgrund. Buchstäblich im letzten Moment riss sich Srulik zusammen und ging zu den Kindern, um mit ihnen zu spielen." Was Orlev hier beschreibt, zieht sich durch den ganzen Roman: Sruliks Innenleben und seine Gefühle werden fast gar nicht beschrieben; sein Handeln hingegen zeigt dem Leser, dass das Kind in der lebensfeindlichen Situation nur noch ein Ziel verfolgt: die nationalsozialistische Besatzung zu überleben.

Nach der Flucht aus dem Ghetto schließt sich Srulik einer Gruppe anderer Jungen an, die ihn lehren, im Wald zu überleben. Srulik zieht kurz darauf alleine weiter. Zwar trifft er vereinzelt auf Dorfbewohner, die ihm für seine Arbeitskraft Nahrung und Unterkunft gewähren, doch lebt er in ständiger Unsicherheit. Er weiß nie, ob sie ihn, den jüdischen Jungen, verraten werden. Als Srulik wieder einmal flieht, trifft er unerwartet seinen Vater wieder, der ihm sagt, er solle sich von nun an Jurek Staniak nennen und im Wald leben, da die Deutschen den Wald wegen der Partisanen fürchteten. Kurz darauf werden die beiden endgültig voneinander getrennt. Als Srulik, der von nun an Jurek heißt, völlig entkräftet bei einer Frau Unterschlupf findet, lehrt ihn diese, christlich zu beten und übt mit ihm eine erfundene Lebensgeschichte ein. Dies hilft ihm, seine Identität als Jude zu verbergen. Doch auch von dieser Bleibe muss Jurek fliehen. Nach unzähligen Stationen, immer umgeben von Verfolgung oder Unterstützung, ist der Krieg schließlich vorbei und Jurek hat seinen ursprünglichen Namen, Srulik, vergessen.

In seiner sachlichen und ruhigen Sprache gelingt es Uri Orlev auf eindringliche Weise zu beschreiben, was eigentlich unvorstellbar ist. Wie kann ein Kind, hilflos und alleine, solche Umstände überleben und immer weiter kämpfen? Dass die Schilderung von Sruliks Gefühlen so knapp gehalten ist, ist wohl dadurch bedingt, dass diese kaum formulierbar sind. Vor seinem realen Hintergrund ist der Roman ein unglaubliches Dokument über das Schicksal eines Kindes im Nationalsozialismus. Orlev schreibt treffend in seinem Vorwort: "Unter allen Kindern, die plötzlich allein auf der Welt standen, findet sich hier und da ein Kind, das vom Schicksal, so grausam und hart es auch sein mochte, nicht besiegt wurde, weil seine innere Lebenskraft stärker war als alles andere. Wie man weiß, übertrifft manchmal die Realität jede Phantasie."


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