Im Reclam-Verlag erschien erstmals ein Sammelband mit Texten von  Überlebenden des nazistischen Massenmordes
 Die Memoiren von Überlebenden des Holocaust sind zu einer  Literaturgattung des 20. Jahrhunderts geworden. Es sind autobiografische  Aufzeichnungen, in denen die Verfasserinnen und Verfasser von der  extremen Gewalt berichten, der sie unterworfen waren. "Sie sind auch  dort, wo dies nicht thematisiert wird, dennoch insgesamt Ausdruck einer  Leidens-, Schmerz- und Überwältigungserfahrung und - das ist nun das  Besondere - sie werden darum gelesen, mehr noch: es wird ihnen aus  diesem Grunde eine Deutungsautorität zugesprochen", so Jan Philipp  Reemtsma in einem Vortrag. Der Hamburger Sozialwissenschaftler und  Publizist geht darin unter anderen der Frage nach, warum sich dies so  entwickelt hat. Zuvor fand - von wenigen Ausnahmen abgesehen - Leid nur  dann "literarische Salonfähigkeit", wenn es über den Umweg durch einen  Autor beschrieben wurde, der nicht mit der leidenden Hauptfigur  identisch war: "Wir lesen Shakespeares King Lear und nichts Lears  Tagebücher (...), wir lesen die Troerinnen des Euripides und nicht die  Memoiren der Hekabe.
 
 Wenn heute der Massenmord an den europäischen Juden als  "Zivilisationsbruch" bewertet wird und nicht nur als "eine Katastrophe  mehr im so katastrophenreichen Europa", so ist zu beachten, dass dies  nicht von Anfang an so gesehen wurde, weder von jüdischer noch von  nichtjüdischer Seite. Es war zwar etwas Außerordentliches, aber "es war  eben etwas, was neben vielen anderen Untaten und vielem anderen Unglück  in diesem Krieg geschehen war", zitiert Reemtsma hier Ruth Klüger. Und  er verweist auch darauf, dass die Allierten nicht wegen Auschwitz Krieg  gegen Nazi-Deutschland geführt haben.
 
 Dass wir heute den Holocaust als einen "Zivilisationsbruch" sehen, "ist  nicht die Voraussetzung für unsere Lektüre der Autobiographien der  Überlebenden, sondern mit deren Ergebnis". Reemtsma kommt zur  Schlussfolgerung: "Trostbüchlein sind es nicht, keine Dokumente des  Weltvertrauens, aber als Dokumente des Überlebens und der Schilderung  des Entsetzens und des Entsetzlichen bleiben sie paradoxe Zeugnisse des  Fortlebens einer Zivilisation, die in den Lagern zerstört wurde - auch  dort, wo sie, wie im Fall Roman Fristers, dieses zu dementieren  scheinen. Die Frage nach dem Woher der moralischen Autorität dieser  Memoiren Überlebender lässt sich beantworten: Nur in diesen Texten wird  das Ausmaß der Zivilisationskatastrophe, weil im Detail zur Kenntnis  genommen, nicht verleugnet. Nur in diesen Texten wird wirklich deutlich,  dass die Rede vom "Zivilisationsbruch" keine wohlfeile Rede ist. Wir  sprechen nicht von irgendeiner der historischen Katastrophen. "An keinem  anderen Ort und zu keiner anderen Zeit hat man ein derart unerwartetes  und derart komplexes Phänomen beobachtet: niemals sind so viele  Menschenleben in so kurzer Zeit mit einer derart luziden Kombination von  technischer Erfindungsgabe, Fanatismus und Grausamkeit ausgelöscht  worden", schreibt Primo Levi."
 Die Metapher "Holocaust"
 
 Die Tatsache, dass die Memoiren Überlebender des Holocaust zu einer  Literaturgattung geworden sind, trug die Universität Gießen Rechnung als  sie vor Jahresfrist am Fachbereich Germanistik die Arbeitsstelle  "Holocaust-Literatur" einrichtete. Sascha Feuchert, Mitarbeiter dieser  Arbeitsstelle, hat nun im Reclam-Verlag erstmals einen Band  "Holocaust-Literatur: Auschwitz" herausgegeben, in dem er eine Auswahl  von Erinnerungstexten von überlebenden Opfern (sowie auch von zwei  Tätern) versammelt.
 In dem oben erwähnten Essay hat Jan Philipp Reemtsma nebenbei auch auf  Raul Hilberg hingewiesen, der berichtete, dass die "Holocaust Studies"  in den USA während des Vietnamkrieges populär wurden, als man nach  Traditionen moralisch gerechtfertigter Kriege suchte. In der Folge  dieser Stimmung entstand die TV-Serie Holocaust. Als diese 1979 auch in  Deutschland ausgestrahlt wurde, sollte sie sich als Auslöser erweisen,  dass auch hierzulande der Begriff "Holocaust" zur Metapher wurde, für  den Massenmord, den die Deutschen während des Dritten Reiches an den von  staatswegen nach rassistischen Kriterien zu "Untermenschen"  deklarierten Völkern und Bevölkerungsgruppen exekutierten.
 
 Die kontroverse Diskussion über den Bedeutungsgehalt dieser Metapher hat  Sascha Feuchert in der Einleitung zu seinem Sammelband instruktiv und  spannend erläutert. Dies macht das Buch, das in der renommierten  Reclam-Reihe "Arbeitstexte für den Unterricht" erschienen ist, auch für  Leserinnen und Leser bedeutsam, die nicht im schulischen oder  außerschulischen Bildungsbereich tätig sind.
 
 Die erste deutsche Kritik, die gegen die "Gedankenlosigkeit" der  US-Fernsehproduzenten aufkam, weil "Holocaust" in seiner ursprünglichen  Wortbedeutung "Brandopfer" als eine Sinngebung des Massenmords  verstanden wurde, übersah, dass "Holocaust" als Begriff in den USA  längst gebräuchlich war. Die Rekonstruktion, wie sich die Metapher im  englischen Sprachgebrauch für die "Endlösung", also den Mord an den  Juden, einbürgte, ist lohnend und "weit mehr als eine bloße  philologische Fingerübung", wie Feuchert schreibt und im folgenden  überzeugend darstellt. Zur Sprache kommt hier auch die innerjüdische  Auseinandersetzung und die Abgrenzung bzw. Gleichsetzung mit dem  hebräischen Wort "Shoah".
 
 Feuchert schließt sich dem Vorschlag des Philosophen und  Sozialwissenschaftlers Jürgen Habermas an, den dieser im Zusammenhang  mit der Auseinandersetzung um das Holocaust-Mahnmal in Berlin  unterbreitet hatte. Demnach "wird der zuerst eingebürgerte Kollektivname  "Auschwitz" fast gleichbedeutend mit dem später übernommenen Ausdruck  "Holocaust" gebraucht. Tatsächlich erstreckt er sich aber nicht nur auf  das Schicksal der Juden. Als Pars pro toto meint er das komplexe  Vernichtungsgeschehen im ganzen" (Zitat Habermas). Unter "Holocaust" ist  also die Gesamtheit der Repressions- und Vernichtungspolitik gegen alle  Opfergruppen zu verstehen. "Dabei bleibt klar, dass den Zwangs- und  Vernichtungsmaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung - nicht zuletzt  wegen ihrer Dimension - stets eine besondere Beachtung zukommen muss."  (Feuchert)
 
 Dieser erste Teil der Einleitung wird ergänzt durch den Abdruck einer  längeren Passage aus der "Enzyklopädie des Holocaust" (hrsg. von Israel  Guttman, 2 1998), in dem die wichtigsten Informationen zur Geschichte  und zur Bedeutung des Konzentrationslagers Auschwitz dargestellt werden.  Bereits hier lässt sich ersehen, wie und in welchem Maße die  Geschichtswissenschaft auch auf die Zeugnisse der Überlebenden Bezug  nimmt. "Die Schrecken von Auschwitz sind im internationalen  Sprachgebrauch zum Synonym für Unmenschlichkeit geworden", heißt es  abschließend in dem Enzyklopädie-Artikel.
 
 Primo Levi, Elie Wiesel, Ruth Klüger, Tadeusz Borowski, Wieslaw Kielar,  Fania Fenelon sind die hierzulande wohl bekanntesten Namen von  Überlebenden des Holocaust, deren schmerzlichen Erinnerungen das Wissen  und die Literatur über den millionenfachen Völkermord des Deutschen  Reiches an Juden, Roma und Sinti sowie den ebenfalls zu Untermenschen  stigmatisierten slawischen Völkern - vor allem Polen und Russen -  bestimmt haben. Zusammen mit Beispielen weniger bekannter Autorinnen und  Autoren (insgesamt 18 Beiträge) bilden sie den Hauptteil der  Reclam-Sammlung. Es wurden Textauszüge ausgewählt, die "die  uneinheitlichen Häftlingsgruppen berücksichtigen, die von verschiedenen  Zeiten des Lagers berichten, die die uneinheitlichen  "Lebens"-Bedingungen von Männern und Frauen reflektieren und die drei  großen Teile des Lagerkomplexes Auschwitz auf uneinheitliche Weise  interpretieren: Auschwitz I-Stammlager, Auschwitz II-Birkenau und  Auschwitz III-Monowitz".
 
 Ergänzt werden die Berichte der überlebenden Häftlinge durch  Niederschriften von zwei Tätern (Aussagen des Auschwitz-Kommandanten  Rudolf Höss und Tagebuchnotizen des SS-Arztes Johann Kremer). Denn den  Opfern gebührt ohne Zweifel unser Mitgefühl, aber "den Verbrechern  gebührt unsere Aufmerksamkeit, damit wir Bescheid wissen - zur Mahnung",  so Hanna Krall, die polnische Schriftstellerin, die wie keine zweite  die Schicksale der Opfer und die "Leerstellen, die die Toten  hinterlassen haben", in ihren Büchern beschrieben hat.
 
 Der 232 Seiten starke Reclam-Band wird abgerundet durch ein hilfreiches  Glossar zu Begriffen des Lagersystems und des Lageralltags sowie von  Arbeitsvorschlägen, wie die Texte im Unterricht - auch  fächerübergreifend, wie Feuchert betont - eingesetzt werden können (sie  wurden so ausgewählt, dass sie ab dem 9. Schuljahr Verwendung finden  können). Übersichtlich ist zudem das Quellen- und Literaturverzeichnis,  das auch einige nützliche Hinweise für die Recherche im Internet  umfasst.
 
 Herausgeber Sascha Feuchert begründet die Notwendigkeit der  Beschäftigung mit Auschwitz und dem Holocaust mit einem Hinweis auf den  Soziologen Wolfgang Sofsky. Für Sofsky ist grundsätzlich alles, was  Menschen sich gegenseitig antun und voneinander erleiden, verstehbar.  "Wo man sich hinter der Rede von der Unverstehbarkeit beziehungsweise  Unvorstellbarkeit versteckt, da will man nicht verstehen", fasst Sascha  Feuchert die Schlussfolgerungen Sofskys sowie das Anliegen seines Buches  zusammen.
 
 von Hans Hirschman