Was passiert, wenn sich die Literatur auf Geschichte einläßt? Kann und darf man in der Literatur historische Fakten verwenden und diese interpretieren, wie es z.B. Schiller in seiner "Jungfrau von Orleans" tut? Wie lügt man in der Literatur?
Das sind Leitfragen in Ruth Klügers neu erschienenem Essayband. Das Verhältnis von "Fakten und Fiktionen" verbindet die sieben Aufsätze thematisch, die in chronologischer Reihenfolge ihrer Erstveröffentlichung von 1986 bis 2005 geordnet sind und Rezensionen, Preisreden sowie ihre Bonner und Tübinger Poetikvorlesungen von 1995 und 2005 enthalten. Es sind Denkexperimente und sorgfältige Reflexionen zur Frage nach den Schnittstellen von Historiographie und Literatur, also nach dem Verhältnis von Literatur, Wirklichkeit und Geschichte. Das Interesse an dieser Fragestellung ist auch persönlich motiviert. Als Auschwitz-Überlebende ist für sie die Frage nach Wahrheit oder Verfälschung von nacherzählter Geschichte von besonderer Bedeutung.
Die Wahl der Gattung legt fest, was der Leser vom Werk erwarten darf, so Klügers Grundannahme. Denn der Autor schließt durch sein Werk einen Vertrag mit dem Leser. So wird der Inhalt eines Romans anders beurteilt als der eines Dramas, eines historischen Romans oder gar einer Autobiographie. Bei der Autobiographie möchte sie die Grenzen zwischen Phantasie und Wirklichkeit scharf ziehen. Sie ist für Klüger "die subjektivste Form der Geschichtsschreibung" (S. 85f) und unterliegt damit einer gewissen Verpflichtung an die historische Wirklichkeit. "Wer über Wirkliches schreibt, kann sich nicht über Wirkliches hinwegsetzen". (S. 75) Problematisch findet Klüger daher, wenn ihre eigene Autobiographie "weiter leben" hin und wieder mit einem Roman verwechselt wird, denn fiktiv sind ihre Erinnerungen an Auschwitz nun nicht.
Gerade in der Holocaustliteratur werden oft nur geringe Abweichungen von der historischen Wirklichkeit akzeptiert, so Klüger. "Der Einwand: ‚So war es nicht, hier stimmt etwas nicht, der leicht, aber zu Unrecht naiv erscheint, wiegt hier schwerer als bei anderen historischen Fiktionen". (S. 87) Und dennoch lasse der Leser auch hier Fiktionen gelten, die seinem Bedürfnis, das Grauen richtig auszudeuten, entgegenkommen. So entsteht eine "schizophrene Bewusstseinslage" (S. 87), die die Frage nach Wahrheit und Lüge der Literatur aufwirft. Diese stellt sich auch im Fall der Aufzeichnungen von Jakob Littner, die Wolfgang Koeppen bearbeitet und 1948 unter dem Namen des jüdischen Überlebenden unter dem Titel "Mein Weg durch die Nacht" herausgegeben hatte. 1992 erschien das Buch neu, diesmal unter dem Titel "Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch" und mit Koeppen als Verfasser. Der Text, so argumentiert Klüger, ist in beiden Fällen derselbe. Doch im ersten Fall ist es ein Tatsachenbericht eines Überlebenden, im zweiten ein Roman eines deutschen Nichtjuden, eines Autors aus der Tätergesellschaft. Mit dem Wechsel von einer Gattung zur anderen ändert sich auch der ästhetische Wert, "denn dieser ist kein absoluter Geist, der über den Wassern schwebt" (S. 91), stellt Klüger fest.
Hier werden auch Klügers Überlegungen nach dem Gegensatz von Kitsch und Kunst relevant, denen sie in einem ihrer hochinteressanten Aufsätze nachgeht. Denn Kitsch definiert sie als falsche Kunst, Nachahmung und Vorspiegelung falscher Tatsachen. Ein Ausdruck erlebten Leidens, der sich als Lüge erweist, verkommt zum Kitsch, wie Klüger auch am Fall Wilkomirski belegt, der ein Buch über seine Kindheit im KZ geschrieben hatte, aber in Wahrheit nie im KZ gewesen und nicht einmal Jude war.
Alles hängt also davon ab, wie mit Geschichte gearbeitet wird, so Klügers Argumentation. Es kommt auf die Qualität der Interpretation an.
Klüger besteht auf der moralischen und politischen Verantwortung des Autors für sein Werk. Damit widerspricht sie den werkimmanenten Deutungen der 60er Jahre, die den Text als geschlossenes System außerhalb der Wirklichkeit und dem Zeitgeschehen verorten wollen, ebenso wie dem postmodernen, dekonstruktivistischen Ansatz Paul de Mans. "Und wenn man jetzt zurückschaut, so kann man nicht umhin zu fragen, ob das alles nicht eine Flucht vor der Geschichte war, nämlich einer Geschichte, die man am eigenen, fast verbrannten Fleisch erlebt hat." (S. 83)
Klügers Stil ist einfach, klar, argumentativ und undogmatisch, zuweilen auch scheinbar kompromißlos und provokativ. So etwa, wenn sie vom KZ-Kitsch spricht und die "Sammelwut von oral histories" verdächtigt, Menschen nicht zu Zeugen, sondern zum "Rohmaterial" zu machen (S. 59) und feststellt, daß das "Shoah Business" die Überlebenden zu "Märtyrern" stilisiert, die mit einer Mischung aus Abscheu und Ehrfurcht behandelt werden. "Sterbende werden so behandelt, Krebskranke und Krüppel, nämlich mit einer Distanz, die sowohl negative als auch positive Vorzeichen zuläßt." (S. 58). Oder wenn sie den kitschigen Zwerg im Vorgarten sentimental und damit verlogen nennt, weil er eine fröhliche Harmlosigkeit vortäuscht, die "eigentlich nur im Zusammenhang mit Schneewitchen, nicht aber als Einladung ins Einfamilienhaus glaubhaft ist". (S. 47)
Klügers absolut lesenswerte Aufsätze enthalten aufmerksame Beobachtungen des Umgangs mit Geschichte und der Gedächtniskultur in der heutigen Literatur- und Medienwelt. Sie zeigen, daß sich Fakten und Fiktionen manchmal nicht voneinander unterscheiden lassen, und sind gleichzeitig Mahnungen, die historische Tatsache nicht mit ihrer wechselnden Interpretation zu verwechseln und einen Text nicht ohne seinen historischen Kontext zu sehen.
von Charlotte Kitzinger