am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Forschung und Gedenken

In seinem neuesten Buch bündelt Kurt Schilde seine bisherigen Forschungen und Veröffentlichungen zum Novemberpogrom im hessischen Felsberg. Noch bevor Propagandaminister Joseph Goebbels aus München das Signal zum Start reichsweiter Ausschreitungen gegen Juden, ihre Wohnungen und ihre Geschäfte gab, hatte sich in dem kleinen Ort Felsberg eine Horde aus SA-Männern, Hitler-Jungen und ‚ganz normalen‘ Einwohnern zusammengefunden, die ihre jüdischen Nachbarn heimsuchten, verprügelten und durch die Straßen hetzte. Darunter war auch der früher geachtete Robert Weinstein, dem das ehedem führende Textilgeschäft am Ort gehört hatte. Der kranke und ohnehin schon geschwächte Weinstein wurde unter Gewalt aus dem Haus gezerrt und starb wenige Minuten später an Herzversagen. Er war das erste Todesopfer der Reichskristallnacht.

Anhand von Zeugenaussagen, die von anderen Juden Felsbergs sowie von nichtjüdischen Einwohnern nach dem Krieg gemacht wurden sowie mit Hilfe weiterer Quellen rekonstruiert Schilde den Ablauf des Geschehens am Abend des 8. November 1938. Eindrücklich kann er den Pogrom so als ein Gemeinschaftswerk vieler vor den Augen aller darstellen – so wie es sich bald darauf in zahlreichen Orten in ganz Deutschland und Österreich abspielen sollte. Auch in Felsberg waren es, wie vielerorts, vor allem Angehörige der Hitler-Jugend, die sich mit Gewalt und Spott hervortaten.

Ein besonderes Anliegen ist es Schilde, das Leben Robert Weinsteins und seiner Familie – auch im Sinne eines Gedenkens – ausführlich zu schildern. Weinstein, der 1883 geboren wurde, war bis Machtantritt der Nationalsozialisten ein ebenso gut integrierter wie vielfach geachteter Bürger. Er engagierte sich als SPD-Mitglied in der Kommunalpolitik sowie im jüdischen Vereins- und Kulturleben, u.a. als Vorsitzender der Ortsgruppe des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten. 1933 jedoch änderte sich alles. Der auf die offizielle Boykott-Aktion im April 1933 folgende stille Boykott durch viele ehemalige Kunden zwang Weinstein 1935 zur Geschäftsaufgabe. Mehr und mehr Mitglieder seiner weitverzweigten Familie verließen Deutschland und flohen nach Palästina oder in die USA.

Auf die Frage, wie es in Felsberg so früh zu einer solch brutalen Gewalt im November 1938 kommen konnte, gibt Schilde keine Antwort. 1932 noch, so schreibt er, hätten die 85 Juden noch „in direkter und harmonischer Nachbarschaft“ (S. 25) mit den Nichtjuden gelebt. Woher aber die antisemitische Gewalt kam, die sich auch schon 1934 in Felsberg offen zeigte, bleibt unbeantwortet – die Frage wird nicht einmal wirklich gestellt. Dies ist insgesamt ein Manko des schmalen Bandes: Manche Fragen bleiben ungestellt, historische Kontexte nebulös und über weitere Strecken – vor allem in der Darstellung des Gerichtsverfahrens nach 1945 – beschränkt Schilde sich (mit schwacher Begründung) auf seitenlange Zitate aus dem Urteil oder aus Presseartikeln. Was bleibt, ist ein durchaus zwiespältiger Eindruck. So verdienstvoll Anliegen und Bemühen auch sind, das ausgebreitete Material und der historische Kontext hätten Stoff für mehr geboten.

Von Markus Roth

 

Kurt Schilde: Frühe Novemberpogrome 1938 und das erste Opfer Robert Weinstein.

Berlin: Hentrich & Hentrich, 2016.
79 Seiten. 9,90 Euro.
ISBN: 978-3-95565-169-5


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