am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Eberhard Rathgeb: Das Paradiesghetto.

Sie schluckte: „Es ist meine Familie. Es ist unsere Geschichte.“
„Da irrst du dich nämlich. Sie gehört uns allen. Es ist unsere Geschichte. In gewisser Weise waren wir alle in den Lagern.“

Dieser Dialog über die Frage, wem der Holocaust ‚gehört‘, stammt nicht aus dem hier zu besprechenden Buch, sondern aus dem 2017 auf Deutsch erscheinenden Roman Der letzte Krieg (im niederländischen Original De Laatste Oorlog, hier zitiert nach: die horen 263, 2016, S. 85-95, hier S. 94) von Daan Heerma van Voss. Die dortige Hauptfigur Abel Kaplan möchte – getrieben von einer Überidentifikation mit dem Zweiten Weltkrieg, den er nicht selbst erlebt hat – ein Kriegstagebuch umschreiben. In dem zitierten Gespräch wirft ihm seine Freundin Judith schließlich vor, „obszön“ (ebd., S. 93) zu handeln.

Genau um diese ‚obszöne‘ Anmaßung bei der Erinnerung an den Holocaust dreht sich auf ganz besondere Art und Weise auch der Roman Das Paradiesghetto von Eberhard Rathgeb. Wie Abel sich selbst in einem Konzentrationslager sieht, so nimmt auch die Protagonistin bei Rathgeb die Position einer vom Holocaust Gezeichneten ein. Zwar hat sie im Gegensatz zu van Voss‘ Figur die damalige Zeit erlebt, allerdings als Auslandsdeutsche in gesicherten Verhältnissen im kriegsfernen Südamerika. Rathgeb zeichnet mit seinem Roman den Grenzverlauf der ‚Obszönität‘ und der Anmaßung nach, wenn er fragt: Wie sehr darf man sich mit dem Holocaust identifizieren, wenn man ihn nicht durchlebt hat?

Das Paradiesghetto erzählt die Geschichte von Eliza, deren Familie Anfang der 1930er Jahre nach Argentinien auswandert. Auch wenn ihre Familie weiterhin mit der deutschen Kultur verbunden bleibt – der Vater taucht als Redner bei einem Treffen der Landesgruppe der NSDAP in Buenos Aires aus dem Nebel der überformten Erinnerung auf, aber „[e]r war kein Nazi […]. Natürlich nicht, wie kommst du darauf? Die Nazis waren in Deutschland“ (S. 87) –, wächst sie weit entfernt von den Ereignissen in Europa auf. Ende der 1940er Jahre kehrt sie mit ihrem deutschen Ehemann, den sie in Argentinien kennengelernt hat, in ein Deutschland zurück, in dem es ihr nicht gelingt, wirklich anzukommen.

Genau hier beginnt sich die Spirale zu drehen – von dem Unglück der eigenen Lebenssituation zur Obsession mit dem Holocaust. Denn wenn Eliza ehrlich wäre, müsste sie feststellen, dass sie sich in Deutschland schlicht und einfach aus vielen Gründen „verlore[n]“ (S. 79) fühlt, weil sie ihre Familie in Argentinien vermisst, weil sie in einem kleinen Dorf statt in der Millionenmetropole Buenos Aires wohnt und weil ihr Mann ihr nicht den Lebensstil bieten kann, den sie aus ihrer Kindheit gewohnt ist. Rathgeb lässt seine Protagonistin aber externe Gründe für ihre Gefühle finden: Sie muss in einem Land leben, in dem alle ihre Mitmenschen – freilich in verschiedenem Grade, aber dennoch alle – Schuld am Holocaust auf sich geladen haben. Dieses Gedankenkonstrukt bietet ihr die Chance, sich selbst als Opfer unter Tätern fühlen zu können. Aus „Angst vor der Sehnsucht, etwas Neues zu wagen, Angst vor ihrem Wunsch nach einem erfüllten Leben […] flüchtet [sie] in das Unabänderliche“ (S. 80) und fühlt sich ebenso der Situation ausgeliefert, wie es für sie die Juden während des Holocaust waren. Natürlich ist dieser Schritt hochgradig fragwürdig, anmaßend und geradezu – um van Voss aufzugreifen – obszön, aber Rathgeb spielt diesen Gedankengang in famoser Art und Weise durch und entwirft mit Eliza eine Figur, die es in der Holocaustliteratur so noch nicht gab.

Ihr ganzes Erwachsenenleben verkriecht sich Eliza in die Thematik der Judenverfolgung. Aber das tut sie nicht, um primär Wissen anzusammeln, sondern um das fremde Leid aufzusaugen, um Angriffspunkte gegen Menschen in ihrer Umgebung zu finden und um sich mit den Opfern gleichzustellen: „Jede freie Minute meines Lebens widmete ich der Judenvernichtung […] als sei mein Leben nur sinnvoll und erträglich, wenn ich mich mit der Judenvernichtung beschäftigte“ (S. 109). Sie wird dadurch einerseits immer mehr zu einer Gefangenen („Es gibt keine Gegenwart ohne Vergangenheit, so wie es kein Deutschland ohne Hitler gibt“, S. 123), andererseits wird der Holocaust für sie zunehmend zum Lebenselixier, das sie über alle anderen erhebt und das ihr den nötigen Schwung verleiht („Hitler und die Judenvernichtung hielten sie noch im hohen Alter auf Trab“, S. 127). Die Beschäftigung mit dem schlimmsten aller Menschheitsverbrechen wird für sie paradoxerweise zunehmend zum Ruhepol: „Ihr unruhiger Blick blieb an dem Buch hängen, in dem sie den Abend zuvor gelesen hatte. Sie sah in das magere Gesicht eines jüdischen Kindes und vergaß darüber sofort ihr lautes Jammern, ihre untätigen Töchter, den gut versorgten Hund. Die Juden, dachte sie und ging in einem Meer aus Unglück und Leiden unter. […] So trieb sie eine Weile dahin, wie in Trance, aufgehoben in dem Gefühl, eine Überlebende zu sein“ (S. 175).

Vor dem Zubettgehen greift sie ebenfalls zu dem bewährten Mittel: „Sogar auf ihrem Nachttisch lag immer ein Buch über die Judenvernichtung und die Nazis. Ich werde noch etwas lesen, dachte sie. Sonst komme ich nicht zur Ruhe“ (S. 183). Sätze wie diese lassen den Leser aufhorchen und machen die besondere Qualität des Buches aus.

Zum Zeitpunkt, an dem der Roman einsetzt, ist Eliza eine alte, grantige Frau. Ihr Mann ist bereits gestorben, die Töchter leben ihr eigenes Leben und wenn sie mal anrufen, überschüttet sie sie auch dann noch mit dem Vorwurf, sie würden es sich zu bequem machen in dieser Tätergesellschaft, wenn diese sie anflehen, das Thema einmal ruhen zu lassen. Freunde oder Bekannte gibt es ebenfalls nicht – wie sollte sie sich aber auch mit den Nachbarn anfreunden können? Das waren doch alle Nazis und Mörder! Mit Vorwürfen an ihre Altersgenossen hält sie nicht zurück, sie, die aber selbst nie vor der Entscheidung stand, sich während des Nationalsozialismus zu positionieren oder gar damals Widerstand zu leisten. Erschwerend kommt hinzu, dass immer wieder angedeutet wird, dass ihre Familie durchaus durch den Nationalsozialismus wirtschaftlich profitiert hat und etwa auf ihrer Urlaubsreise 1936 nicht mehr die ehemaligen jüdischen Nachbarn besuchte. Doch all das verdrängt sie: „Der Atlantik schob sich zwischen das Glück und das Leid und nahm ihr jede Schuld“ (S. 99).

Wenn die eigene Schuld thematisiert wird, dann in den Gesprächen mit ihrem verstorbenen Mann, die besonders durch ihre sprachliche Dichte hervorstechen (z.B. S. 144-149). Er taucht immer dann auf, wenn sie das Bedürfnis für ein Gespräch fühlt. In allem ist er das Gegenstück zu Eliza: Ihm gefiel das Leben im Wirtschaftswunderdeutschland und er lebte sich so ein, dass er Bücher über die deutschen Opfer las, während seine Frau den Holocaust studierte. Letztlich ist er es auch, der Eliza mit seinem Wissen über die Kooperation der Auslandsdeutschen mit der NSDAP vorführt und am Ende ist ‚die Gute‘, die sich so vehement für die Erinnerung und Aufarbeitung des Holocaust einsetzt, von ihm und durch den Erzähler dekonstruiert.

Dabei ist Eliza eine famose Hauptfigur, die dem Leser sowohl leid tut, als auch ihn in großem Maße abstößt; in der der Leser zeitweise tatsächlich ein Opfer sieht, aber dann doch wieder die Maßlosigkeit ihrer Aussagen vorgeführt bekommt. Denn nicht nur die jüdischen Opfer helfen ihr weiterzuleben, sondern vor allem die deutschen Täter werden zu Stützen, die ihr das Leben erträglich machen: „[W]enn sie niedergeschlagen und traurig war und das Alleinsein nicht mehr aushielt, wenn sie unter Menschen sein wollte“ (S. 205), dann schaut sie sich beispielsweise Filmaufnahmen von Adolf Eichmann an: „Sie fühlte sich sofort besser, sie atmete auf, die Niedergeschlagenheit war verflogen, sie war hellwach. Kein anderer Film, kein anderer Schauspieler, keine andere Nazigröße hatte eine solche belebende Wirkung auf sie wie Eichmann vor Gericht in Israel. […] Seine monströse Einsamkeit zog sie an“ (S. 206)“

In Das Paradiesghetto ist der Leser extrem nah an der Hauptfigur, an ihrem Alltag, ihrem Leben und an ihren Erinnerungen. In einer „Leier der Klage“ (S. 161), in kurzen Sätzen, die das vergebene Leben von Eliza so prägnant einfangen, dreht sich der Leser um sie, immer und immer wieder tauchen dieselben Gedanken auf und machen deutlich, wie gefangen sie in der Banalität des eigenen nichtgelebten Lebens ist. Der Roman hat trotz der immer wiederkehrenden gleichen Gedankenlage der Hauptfigur einen rasanten Stil, arbeitet neben vielen Fragezeichen auch mit Auslassungspunkten und Unterbrechungen. Selbstgespräche gehen dabei in reale Gespräche über und das beschreibende ‚sie‘ in den Rückblicken des Erzählers wechselt sich ab mit dem ‚Ich‘ der aktuellen Gedanken. Es ist ein Erzählfluss aus Assoziationen und Sprüngen zwischen den Zeitebenen; unterbrechende Erzählsignale wie Anführungszeichen fehlen völlig. Der Leser sinkt mit ein in ihr eintöniges Elend, aus dem sie nicht mehr herauskommt. Es ist irritierend schön.

Es ist ein unglaublich hintersinniges Gedankenspiel, das Rathgeb wagt: Was passiert, wenn jemand das größtmögliche Trauma wählt, um für sich einen Lebenssinn zu schaffen? Der oben bereits zitierte Daan Heerma van Voss greift eine Feststellung des niederländischen Journalisten Ischa Meijer auf, wenn er konstatiert, was auch für Eliza gilt: „[M]it Leiden, das für jeden erkennbar und das allgemein akzeptierbar ist […], ist auch Prestige verknüpft. Wer am meisten gelitten hat, ragt heraus“ (S. 89). Und so stimmt einfach alles bei Rathgebs Buch um die Frage der individuellen Instrumentalisierung des Holocaust.

Von Christiane Weber

 

Eberhard Rathgeb: Das Paradiesghetto.

München: Carl Hanser Verlag, 2014.
235 Seiten, 18,90 Euro.
ISBN: 978-3-446-24605-8

 


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