Mit ihrem neuen Buch Deportiert. „Immer mit einem Fuß im Grab“ – Erfahrungen deutscher Juden setzt die Historikerin Andrea Löw den deutschsprachigen Jüdinnen und Juden, die ab Herbst 1941 mit Beginn der systematischen Deportationen der Nationalsozialisten in verschiedene Gettos in den Osten deportiert wurden, ein Denkmal. Anhand zahlreicher Quellen, Zitate und Selbstzeugnisse, wie etwa Postkarten, Briefe, Tagebücher oder Interviews und Berichte, lässt sie die Opfer zu Wort kommen und ihre Erlebnisse selbst erzählen. Eindrücklich kann so der Weg vom letzten frei gewählten Wohnort – über sogenannte ‚Judenhäuser‘, den Sammelstellen und schließlich den Deportationen mit Zügen in die Gettos – das dortige Leben und Leiden und die weiteren Deportationen in verschiedene Konzentrationslager bis hin zu den wenigen Befreiungen nachvollzogen werden. Obwohl jede Geschichte individuell ist, schafft es Löw so, eine kollektive Geschichte zu erzählen. Sie zeichnet dabei jedoch nicht nur die Leiden des täglichen Lebens nach, das vor allem von Hunger und Mangel geprägt war, sondern macht auch sichtbar, wie und durch was sich die Menschen ihren Lebenswillen bewahrten: Sie organisierten Schulunterricht für die Kinder, gaben Konzerte, führten Theaterstücke auf, spielten Fußballturniere, lasen Literatur vor, feierten Feste und begingen Feiertage. Auch Post, Briefe und Lebensmittelpakete aus der Heimat stellten einen wichtigen Faktor des Überlebens dar.
Nachdem den von den Nationalsozialisten als jüdisch deklarierten Menschen bereits ab 1933 immer mehr Rechte abgesprochen und sie von der restlichen Bevölkerung zunehmend isoliert wurden, begann ab Herbst 1941 mit der Zustellung des Deportationsbescheids – oder der Benachrichtigung über ihre „Evakuierung“, wie die Bescheide offiziell genannt wurden – ein neues Leidenskapitel. Nur wenig Zeit ließ man den Menschen, um einen maximal 50 Kilogramm schweren Koffer zu packen und mit ihrem alten Leben abzuschließen. Wohin sie verbracht werden würden, wussten die Menschen zu diesem Zeitpunkt meist noch nicht. „Wir haben Tag und Nacht geweint“ (S. 20), erinnert sich Trude Friedrich später an die Zeit nach der Zustellung des Deportationsbescheids. Auch die Absicht hinter ihrer Deportation war den meisten Menschen noch unklar, und so glaubten viele an einen tatsächlichen Arbeitseinsatz im Osten und packten teilweise sogar Werkzeug dafür ein.
Von den Sammelstellen, in denen sie bereits einige Zeit unter menschenunwürdigen Umständen verbringen mussten, von den Wachen angebrüllt und geschlagen wurden und nur wenig Essen bekamen, ging es dann mit Zügen in die Gettos der besetzten Ostgebiete. Dort erwartete die Menschen der nächste Schock: Teilweise stießen sie auf die Spuren der kürzlich ermordeten lokalen jüdischen Bevölkerung oder sie kamen in bereits überfüllte Gettos und mussten sich in einer völlig fremden Umgebung zurechtfinden. Angekommen in Riga, beschreibt Gerda Gottschalk den Fund von einer gefrorenen Mahlzeit auf dem Tisch: „Sie war noch von denjenigen hergestellt worden, die jetzt reglos in Massengräbern des Hochwaldes lagen. Der Hunger zwang uns, die Speisen aufzutauen und zu essen, die Kälte zwang uns, die Kleider, die wir in den Schränken vorfanden, an uns zu nehmen, um die starren Glieder zu wärmen.“ (S. 92) Die Lebensbedingungen in den Gettos waren schwer zu ertragen. Es gab kaum Essen, wenig Platz und umso mehr Krankheiten und Ungeziefer. Arbeit, um die kargen Essensportionen aufzubessern, war lebensnotwendig. Die Deportierten versuchten, so gut es ging, die hygienischen Bedingungen zu verbessern und gegenseitig auf sich achtzugeben.
Das Zusammenleben mit der lokalen jüdischen Bevölkerung, sofern es noch eine gab, stellte sich in vielen Fällen als schwierig heraus. Zu unterschiedlich waren die Lebensgewohnheiten oder wurden die Traditionen interpretiert: „Wild-West ist gar nichts dagegen. Es sind so unterschiedliche Lebensauffassungen und Grundsätze hier, dass jeder ungefestigte Mensch seelisch stark ins Wanken gerät, wenn nicht für immer entgleist. Es gibt weder Kultur noch Moral“ (S. 105), schreibt Ernst Krombach 1942 aus Lublin. Auch die Sprachbarriere erschwerte eine Annäherung und machte Tauschhandel mit der Zivilbevölkerung außerhalb des Gettos oder gar eine Flucht unmöglich.
Ein weiterer Aspekt, der eine Flucht, sofern überhaupt denkbar, erschwerte, war der psychische, da unumstritten war, dass die im Getto verbliebenen Verwandten bei einer Flucht sofort ermordet werden würden. So hielt Werner Sauer im Getto Riga fest: „Ich wollte schließlich nicht der Mörder meiner Eltern sein“ (S. 216). Diejenigen, die die immer weiter um sich greifenden Aktionen der Nationalsozialisten ab Mai 1942 überlebt hatten, wurden im Zuge der Liquidierung der Gettos nach und nach in Konzentrationslager deportiert.
Dort wurden sie mit einer weiteren Facette der unmenschlichen Brutalität der Nationalsozialisten konfrontiert, wie Gerhard Hoffmann aus seiner Zeit in Flossenbürg berichtet: „Stundenlange Zählappelle, auch bei Nacht, und andere Schikanen waren an der Tagesordnung. Wir sollten ja nicht leben. Wir sollten eben krepieren.“ (S. 250) Für viele, die das Ende des Krieges in den Lagern oder auf den Todesmärschen überlebten, war mit der Befreiung der Leidensweg jedoch keineswegs beendet. Die meisten hatten alles und jede:n verloren, waren körperlich gezeichnet und wussten nicht, wohin sie gehen sollten. Dies beschreibt auch Hannelore Marx: „Was eigentlich mein glücklichster Augenblick sein sollte, verkehrte sich ins Gegenteil. Dreieinhalb Jahre war uns gesagt worden, was wir zu tun hatten, und jetzt, da ich endlich frei war, wusste ich nicht, was ich mit meiner Freiheit anfangen sollte. Ich fühlte mich ganz allein auf dieser Welt, wie ein einzelnes Blatt im Wind.“ (S. 277)
Löw schafft es durch ihre Auswahl, das Schicksal deutschsprachiger Jüdinnen und Juden nachvollziehbarer und greifbarer zu machen. Diese Zusammenstellung fiel sicherlich schwer, da sie nur einige Stimmen erklingen lassen konnte. Einzelne Personen kann man durch beinahe alle Stationen der Deportationen, die das Buch beschreibt, begleiten und begegnet ihnen bei der Lektüre immer wieder. So entsteht eine packende und enorm wichtige Lektüre.
Andrea Löw: Deportiert. „Immer mit einem Fuß im Grab“ – Erfahrungen deutscher Juden.
Frankfurt/Main: S. Fischer Verlage, 2024
368 Seiten, 26 Euro
ISBN: 978-3-10-397542-0