am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Adolf Rudnicki: Sommer 1938

Der autobiographisch-literarische Reisebericht von Adolf Rudnicki thematisiert drei sehr unterschiedliche Räume in Polen: die Hauptstadt Warschau, die immer wieder am Rande erwähnt wird, Kazimierz Dolny, ein idyllischer Urlaubsort an der Weichsel, und Góra Kalwaria (jiddisch Ger), ein „Zentrum des Chassidismus“ (S.173). Rudnicki entwickelt anhand dieser Stätten und der Menschen, die an diesen Orten leben, ein spannungsreiches Bild der polnischen Gesellschaft im Jahr 1938. Der Reisebericht erschien im selben Jahr auf Polnisch und wurde nun ins Deutsche übersetzt.

Die episodische Erzählung bietet keinen auf den ersten Blick klaren Handlungsstrang, dem die Leser:innen folgen können. Die Stärke des Textes liegt darin, dass er durch die unterschiedlichen Porträts der dargestellten Menschen und Ortschaften die Vielfalt und Unterschiede in der polnischen Bevölkerung zeigt. Es werden die verschiedensten Gesellschaftsschichten und Milieus dargestellt, etwa der „Fischer Jan“ aus Kazimierz Dolny, der der langen Fischertradition an der Weichsel folgt und in ärmlichen Verhältnissen lebt. Er flucht auf jede Gesellschaftsschicht, die nicht dem Bauernstand angehört. 

Es reisen viele ‚Intellektuelle‘, Künstler und Juden nach Kasimierz Dolny, um sich von der schönen Landschaft und den dort lebenden Menschen inspirieren zu lassen, aber auch um am touristischen Vergnügen an den Badestränden und in den Kneipen teilzunehmen. Bereits hier deuten sich Spannungsverhältnisse an. Kontrastiert wird diese intellektuell-künstlerische Perspektive direkt durch die sehr verbreitete und drastisch dargestellte Armut mancher Bewohner:innen: „Die Maler behaupten, dass die Welt vollkommen ist und im Sinne der Kunst, besonders der Malerei, ist es so. Deshalb betrachten sie diese Hütte des Elends wie einen Paradiesgarten“ (S.86). 

Ein weiteres Spannungsfeld skizziert der Reisebericht zwischen der polnischen und jüdischen Bevölkerung. Einerseits wird das blühende jüdische Leben in Polen dargestellt, in dessen Mittelpunkt die Reise nach jiddisch Ger an Jom Kippur steht, wo der Autor dem Zaddik (dem höchsten und als heilig empfundenen Gelehrten im Chassidismus) begegnet und ihm rituell die Hand reicht, um auf diese Art dessen Shalom zu empfangen. Diese große Ehre wird ihm nur durch einen Brief seines Rabbiners zuteil, der bestätigt, dass sich der Autor mit der kabbalistischen Lehre auskenne. Andererseits deutet sich der grassierende Antisemitismus in Polen schon von Anfang an, zunächst eher unterschwellig, dann im Verlauf der Erzählung immer deutlicher werdend. Die Häufung des Begriffs „Antisemitismus“ ist im zehnten Kapitel besonders auffällig: „Ringsumher tobte, wie man sagte, die Hölle des Antisemitismus“ (S. 117). Diese Erkenntnis gipfelt einige Seiten weiter in der Aussage: „Die Welt sucht erneut jüdische Opfer!“ (S. 146). 

„Sommer 1938“ ist ein Stimmungsbild der Zwischenkriegsgesellschaft in Polen und zeigt den letzten mehr oder weniger unbeschwerten Sommer der jüdischen Bevölkerung Polens. Die zum Teil stark antisemitische Haltung einiger Bewohner:innen im auch für jüdische Besucher:innen attraktiven Urlaubsort Kasimierz Dolny wird durch die präzische dargestellten Eindrücke Rudnickis für die Leser:innen greifbarer. Gleichzeitig besticht das Buch durch einen sehr humorvollen und spitz-ironischen Stil. Die sehr genauen Beobachtungen Rudnickis werden pointiert formuliert. So heißt es etwa in Bezug auf den Menschen: „Es entzücken uns die schäbigsten, belanglosesten, dümmsten Anreize, ist doch in unserem Gehirn so viel Verstand wie in einer Pflanze.“ (S. 33) An anderer Stelle formuliert er: „Je tiefer die Stufe der sozialen Leiter – umso mehr Ernst.“ (S.106) So wird den Urlaubsbeschreibungen eine tiefere Ebene hinzugefügt. 

Von Sandra Binnert

Adolf Rudnicki: Sommer 1938 
Aus dem Polnischen von Barbara Breysach
Berlin: Hentrich & Hentrich, 2021
ISBN 978-3-95565-444-3
17,90 Euro, 190 Seiten


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