am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Marthe Cohn: Im Land des Feindes. Eine jüdische Spionin in Nazi-Deutschland

Marthe Cohns Lebensgeschichte, die sie in "Im Land des Feindes" erzählt, ist mehr als ungewöhnlich. Als französisch-jüdische Spionin kundschaftete sie als junge Frau – getarnt als deutsche Krankenschwester – wenige Monate vor Kriegsende im Auftrag der französischen Armee im nationalsozialistischen Deutschland Truppenbewegungen aus und sammelte kriegswichtige Informationen. Dabei geriet sie mehr als einmal in lebensgefährliche Situationen, denen sie nur dank ihrer Schlagfertigkeit und ihres Mutes, aber auch immer wieder durch Glück entkommen konnte.

Nicht nur von ihrer Spionagetätigkeit handelt jedoch Cohns Biografie. Genau genommen nimmt diese nur etwa die Hälfte des Buches ein. Zunächst erzählt Cohn ausführlich von ihrer sorglosen Kindheit in Metz und den verschiedenen Familienmitgliedern, den Eltern, Großeltern und den sechs Geschwistern. Geboren wird Marthe Cohn 1920 unter dem Namen Marthe Hoffnung Gutglück in eine orthodoxe jüdische Familie in Metz. Innerhalb der Familie wird vor allem Deutsch gesprochen, da Metz von 1871 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs deutsch war. Diese Zweisprachigkeit ermöglichte es Marthe Cohn später auch, sich für ihre Spionagetätigkeit als Deutsche zu tarnen. Nach den Pogromen im November 1938 in Deutschland wird auch die Lage so nahe der Grenze für ihre Familie immer bedrohlicher. Schließlich muss sie Metz verlassen und nach Poitiers gehen, das jedoch ebenfalls 1940 von den Deutschen eingenommen wird. Die Familie bemüht sich, Juden bei der Flucht ins nichtbesetzte Frankreich zu helfen, ihre Mitglieder sind jedoch selbst bedroht. So werden der Bruder Fred und die Schwester Stéphanie –  wie viele andere Familienmitglieder – in einem Internierungslager für politische Gefangene und ausländische Juden inhaftiert. Während Fred wieder freikommt, wird Stéphanie weiter nach Drancy und Pithiviers deportiert. An ihrem 21. Geburtstag lernt Marthe Cohn den jungen Medizinstudenten Jaques Delaunay kennen und die beiden verlieben sich sofort ineinander. Cohn beginnt eine Ausbildung zur Krankenschwester des Roten Kreuzes – keine Selbstverständlichkeit für eine Jüdin im besetzten Frankreich.

Marthe Cohn organisiert schließlich die gefährliche Flucht der Familie aus Poitiers in die freie Zone. Drei Monate später findet sie sich jedoch erneut hinter feindlichen Linien in Vichy-Frankreich und müssen sich mit gefälschten Papieren als Nichtjuden ausgeben. Zunehmend regt sich in Marthe und auch Jaques der Wunsch, aktiver gegen die Deutschen zu kämpfen. Die Brüder Marthes sowie die Schwester Hélène sind längst im Widerstand aktiv. Jacques, der weiterhin in Poitiers lebt, gründet mit seinem Bruder Marc eine kleine Widerstandsgruppe. Sie entführen im Juli 1943 den Kollaborateur und antisemitischen Arzt Michel Guérin und erstechen ihn versehentlich in einem Handgemenge. Jaques und sein Bruder werden festgenommen und im August 1943 hingerichtet. Cohn, die am Boden zerstört ist, legt dennoch ihr Schwesternexamen ab und versucht nun immer vehementer, selbst der Résistance beizutreten. Dort wird sie zunächst abgelehnt, „denn man nahm mich dort einfach nicht ernst“ (S. 174). Dank der Empfehlung von Jaques‘ Mutter – ihre beiden hingerichteten Söhne werden nun als tapfere Résistance-Kämpfer geehrt – wird sie schließlich doch in das 151. Infanterieregiment der Résistance aufgenommen. Sie wird zunächst als Krankenschwester eingesetzt, schon bald jedoch aufgrund ihrer hervorragenden Deutschkenntnisse für eine Spionage-Einheit rekrutiert. Nun beginnt ihre 'Ausbildung' zur Spionin – sie muss sich eine große Menge an Wissen auswendig aneignen, Karten lesen und Morsezeichen senden lernen: "Kurz, ich machte mich mit dem gesamten deutschen Militärapparat vertraut" (S. 190f.). Sie erlernt den Umgang mit Waffen – und ist zu ihrem eigenen Erstaunen eine gute Schützin. Auch als Verhörspezialistin für deutsche Kriegsgefangene wird sie wiederholt eingesetzt. Ab dem 20. Januar 1945 nimmt sie ihre Arbeit als Spionin offiziell auf. Dreizehn – zum Teil lebensgefährliche – Versuche benötigt sie allein, um überhaupt die feindlichen Grenzen nach Deutschland zu überqueren – meist nachts bei Schnee und Kälte, allein und in völliger Dunkelheit. In Deutschland angekommen gerät Marte Cohn in den kommenden Monaten in wahrhaft abenteuerlichen Situationen immer wieder in Lebensgefahr. Als deutsche Krankenschwester Martha Ulrich getarnt, gibt sie vor, ihren Verlobten Hans in einer Fronteinheit zu suchen. Diesen Hans gibt es tatsächlich – er ist zu dieser Zeit in einem französischen Kriegsgefangenenlager in Einzelhaft. Glück, Mut und Improvisationsvermögen gleichermaßen retten ihr immer wieder das Leben. Sie wird zur einer "Meisterin der Verstellungskunst" (S. 268): "Es war, als hätte ich zwei unterschiedliche Persönlichkeiten, und wenn ich in die Rolle der Martha Ulrich schlüpfte, war ich so überzeugend, dass ich beinah selbst an meine Geschichte glaubte" (S. 268). Die Angst ist dabei jedoch ein ständiger Begleiter. Ihre Mission vor Augen lernt sie aber schnell, diese zu kontrollieren und nach außen zu verbregen: "Ich nahm mir fest vor, in Zukunft nie wieder jemanden zu verurteilen, weil er sich fürchtete. In diesem Augenblick begriff ich, dass Mut oder Feigheit nichts mit dem Charakter eines Menschen zu tun hatten, sondern allein von den Umständen und der eigenen Gemütsverfassung abhingen" (S. 219).
Es gelingt ihr, entscheidende Informationen über die Standorte von deutschen Militärlagern und Verteidigungspläne in der Gegend um Freiburg und dem Schwarzwald zu beschaffen und an ihre Einheit zu übermitteln. Dank dieser kann der Angriffsplan der französischen Armee korrigiert und der Vorstoß in den Süden Deutschlands beschleunigt werden. Nach dem Krieg erhält sie dafür das Kriegskreuz der französischen Armee mit silbernem Stern sowie später einen weiteren silbernen Stern. "Es war ein himmelweiter Unterscheid zu dem gelben Stern, den ich vor langer Zeit mit erhobenen Haupt zu tragen versucht hatte" (S. 296), so schreibt Cohn. 2000 wird ihr außerdem die Médaille militaire verliehen und 2014 das deutsche Bundesverdienstkreuz.

Das Kriegsende hinterlässt bei Marthe Cohn neben Erleichterung auch Leere, Einsamkeit und Schuldgefühle, da sie selbst überlebt hat und so viele andere nicht – darunter über dreißig ihrer direkten Familienangehörigen und viele Bekannte. Noch immer hofft sie, dass ihre Schwester Stéphanie überlebt hat und sucht sie verzweifelt. Erst Jahre später erfährt sie, dass ihre Schwester in Auschwitz getötet wurde. Ihre neue inoffizielle Tätigkeit für das französische Militär besteht nun darin, Deutsche anzuwerben, die bereit sind, im Austausch gegen einen Passierschein, Informationen über die anderen Besatzungszonen zu liefern. Am 14. Januar 1946 reicht sie jedoch ihr Entlassungsgesuch ein: "Damit ging die Karriere einer höchst ungewöhnlichen Spionin zu Ende" (S. 324).
Das Leben Marthe Cohns jedoch bleibt ungewöhnlich. Im Februar 1946 bricht sie als Krankenschwester mit einem französischen Expeditionskorps nach Indochina auf. In einem Militärkrankenhaus in Phnom Penh in Kambodscha und anschließend in vietnamesischen Tourane (heute Da Nang) und Quang Tri ist das Leben erneut strapaziös und gefährlich. Auch hier hält die Trauer um die verlorenen Menschen und die Einsamkeit an. Sie nimmt den kleinen Serge, dessen Vater, ein englischer Hauptmann, gestorben ist und der von der Mutter verlassen wurde, wie einen Sohn an. Als die Großmutter aus England fordert, dass der Junge bei ihr in England leben soll, ist dieser erneute Verlust für Cohn nur schwer zu ertragen: "Es war, als durchlebte ich alle erlittenen Verluste meines Lebens noch einmal" (S. 353). Im Dezember 1948 verlässt sie Indochina und kehrt nach Paris und wenig später nach Poitiers zurück. Die seelischen Wunden des Krieges machen ihr jedoch weiterhin zu schaffen. 1953 geht sie nach Genf, um sich dort für die Schweizer Zulassung als Krankenschwester zu qualifizieren. Hier lernt sie den amerikanischen Medizinstudenten Major L. Cohn kennen, dem sie 1956 in die USA folgt und zwei Jahre später heiratet. Das Paar bekommt zwei Söhne. Am Ende des Buches blickt Cohn dankbar für das Glück, das sie hatte – im Gegensatz zu vielen anderen, wie sie bemerkt, – und voller Stolz auf ihr Leben zurück. Der Krieg habe sie eine Menge Dinge gelehrt, konstatiert sie, etwa, dass der Krieg das Beste und das Schlechteste in einem Menschen hervorbringe, "bei mir war mit Sicherheit beides der Fall" (S. 383).

Marthe Cohn hat ihre Lebensgeschichte erst spät erzählt. Erst nach ihrer Pensionierung 2000 begann sie die Arbeit an ihrem Buch, das 2002 auf Englisch erschien und seit 2018 nun erstmals in deutscher Übersetzung von Petra Post und Andrea von Struve vorliegt. Ein Dokumentarfilm über ihre Lebensgeschichte wird gerade vorbereitet.
Die mit zahlreichen Fotografien versehene und sehr anschaulich erzählte Lebensgeschichte beeindruckt und fesselt. Sie liest sich streckenweise sogar wie ein Abenteuerroman. Dabei gerät jedoch niemals aus dem Blick, dass der Grund für Marthe Cohns Handeln und ihre Spionagetätigkeit ein sehr persönlicher wie auch verzweifelter, ja sogar überlebensnotwendiger, war. Als Jüdin schon früh mit der Verfolgung ihrer Familie und zahlreichen Verlusten konfrontiert, war es Marthe Cohn ein starkes Bedürfnis wie auch Verpflichtung, aktiv Widerstand zu leisten. Ihre Geschichte zeigt dabei eindrücklich, dass der Einsatz eines einzelnen Menschen große und entscheidende Wirkung haben kann.

Von Charlotte Kitzinger

Marthe Cohn: Im Land des Feindes. Eine jüdische Spionin in Nazi-Deutschland.
Frankfurt am Main: Schöffling & Co., 2018.
408 Seiten, 26,00 Euro
ISBN 978-3-89561-667-9

 


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