am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Andrea Löw: Juden im Getto Litzmannstadt

Gießener Anzeiger, 27.01.2007: Berichte der Opfer an "zukünftige Historiker"

Dr. Andrea Löw legt beeindruckende Dissertation über "Juden im Getto Litzmannstadt" vor - Perspektive von innen Heidrun Helwig GIEßEN. Demütigungen und Erniedrigungen, Hunger und Tod waren sie im "Krepierwinkel Europas" ausgesetzt. Denn das erklärte Ziel der Nationalsozialisten war ihre Vernichtung. Mit den Juden sollte aber auch jede Erinnerung an die Männer, Frauen und Kinder getilgt werden. Nicht nur im Getto Litzmannstadt. Doch diesem Vorhaben der Mörder widersetzten sich gerade dort unzählige Menschen mit verzweifeltem Mut. Heimlich verfassten sie Tagebücher, Berichte, Erzählungen, in denen sich mitunter sogar direkte Hinweise an "zukünftige Historiker" finden. Schließlich waren die Autoren überzeugt, dass sich irgendwann jemand für ihre Geschichte interessieren würde. Und die künftige Erinnerung an das Getto wollten sie unbedingt mitbestimmen. Die vielfältigen Selbstzeugnisse aus dem zweitgrößten Getto auf polnischem Territorium hat die Gießener Historikerin Dr. Andrea Löw in ihrer eindrucksvollen Dissertation "Juden im Getto Litzmannstadt" nun erstmals systematisch ausgewertet. Dabei hat die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsstelle Holocaustliteratur der Justus-Liebig-Universität eine Vielzahl privater Dokumente in deutscher, polnischer und jiddischer Sprache in die detailreiche Untersuchung einbezogen. Neben Aufzeichnungen, die während der deutschen Besatzungszeit entstanden, auch Erinnerungsberichte von Überlebenden der Nazidiktatur. Durch die breit angelegte Quellenbasis gelingt es Andrea Löw, die Geschichte der Menschen im Getto Litzmannstadt, dem polnischen Lodz, überzeugend zu rekonstruieren. Sie erschließt die Perspektive der Opfer, untersucht "Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten" - so auch der Untertitel der knapp 590 Seiten umfassenden Studie - der Eingeschlossenen und legt damit erstmals eine Innenansicht des Gettos vor. Doch das ist nicht das einzige Verdienst dieser überaus sorgfältigen Arbeit, denn Andrea Löw gibt zudem einen kenntnisreichen Überblick über den Forschungsstand zum Getto Litzmannstadt. Da der größte Teil der Untersuchungen zu dem von den Nationalsozialisten ausgewiesenen "Wohngebiet der Juden" auf Polnisch und Jiddisch vorliegt, hat die Wissenschaftlerin beide Sprachen im Verlauf ihres Dissertationsprojektes erlernt und vermag deshalb bislang überwiegend nebeneinander verlaufende Forschungsstränge zusammenzuführen.
Abgeriegelt wurde das Getto Ende April 1940. Doch weitreichende Repressalien mussten die rund 230000 Juden, die in Lodz lebten, schon zuvor ertragen. Vor allem seit ihre Heimatstadt Anfang November 1939 ins Deutsche Reich eingegliedert worden war. Das eigens eingerichtete "Wohngebiet" umfasste die ärmsten Teile der Stadt, viele der Häuser waren baufällig, verfügten weder über fließend Wasser noch über einen Anschluss an die Kanalisation. Dort wurden Männer, Frauen und Kinder unter katastrophalen Bedingungen zusammengepfercht. Und zu den ohnehin lebensbedrohlichen Zuständen - viele Bewohner starben an Hunger oder Typhus -, kam ab Januar 1942 die ständige Gefahr von Massendeportationen in das nahegelegene Vernichtungslager Kulmhof hinzu. Im August 1944 schließlich wurde das Getto liquidiert, die noch verbliebenen rund 76 000 Menschen ebenfalls nach Kulmhof und Auschwitz-Birkenau verschleppt und dort fast alle ermordet.
Der zeitliche Rahmen der Untersuchung umfasst die Zeit vor der deutschen Besatzung von Lodz bis zur Auflösung des Gettos und wird ergänzt um einen Ausblick auf die Geschichte der Juden, die noch bis zur Befreiung der Stadt durch die Rote Armee im Januar 1945 in der Stadt lebten. Spannend und auch anrührend ist dabei vor allem auch die Überlieferungsgeschichte der Tagebücher, Erlebnisberichte, Beschreibungen. Zudem geht die Historikerin - soweit möglich - dem Schicksal der Autoren nach. Ein unbekannter Verfasser etwa schrieb sein Tagebuch auf die Seiten des französischen Romans "Les Vrai Riches" Auf Jiddisch, Polnisch, Englisch und Hebräisch. "E wollte sicher sein, dass das, was er beschrieb, wirklich von der Nachwelt zur Kenntnis genommen wird" schreibt Andrea Löw. Entdeckt wurde das Buch im Nachbarhaus von einem Überlebenden des Gettos, der nach Kriegsende in seine Wohnung zurückkehrte. Der Schreiber aber wurde vermutlich mit seiner kleinen Schwester in Auschwitz ermordet.

Private Aufzeichnungen

In den privaten Aufzeichnungen steht der Alltag im Getto im Mittelpunkt, die sich zusehends verschärfenden Lebensbedingungen, die katastrophale Versorgungslage. "Das Leben im Getto war die Hölle, das geht aus sämtlichen Selbstzeugnissen hervor. Doch umso wichtiger erscheint es, die Versuche darzustellen, dem etwas entgegenzusetzen", schreibt die Wissenschaftlerin. Theateraufführungen und Konzerte werden organisiert, aber auch Freundschaften geschlossen und Liebesbeziehungen angeknüpft. Zudem gab es - wenn auch wenige - Kontakte nach "draußen" und einen organisierten Schmuggel. Damit widerspricht Andrea Löw dem gemeinhin gezeichneten Bild des Gettos Litzmannstadt als "hermetisch" abgeriegelt.
Die Selbstzeugnisse zeigen zudem, dass die Gettogesellschaft keineswegs eine Einheit war, sondern starke soziale Konflikte die Zwangsgemeinschaft kennzeichneten. Andrea Löw beschreibt darüber hinaus den ungeheueren Aktionismus, mit dem auch die innerjüdische Verwaltung mit dem nicht unumstrittenen Mordechai Chaim Rumkowski an der Spitze versucht hat, den Alltag zu organisieren und dem Leben einen Rahmen zu geben. Zu der scheinbaren Normalität gehörten auch die statistische Abteilung und das Archiv. Dort notieren etwa 15 Mitarbeiter - überwiegend Journalisten und Schriftsteller - die täglichen Nachrichten. Berichten über Wetter und Bevölkerungsstand. Informieren über besondere Vorkommnisse und verzeichnen akribisch den Umfang der Lebensmittellieferungen. Vermelden die Sterbefälle samt Todesursache und die "Transporte zur Arbeit außerhalb des Gettos", die Transporte ins Vernichtungslager. Neben den Selbstzeugnissen war auch diese rund 2000 Seiten umfassende Tageschronik "von unschätzbarem Wert" für die Untersuchung der Wissenschaftlerin.
Die Veröffentlichung dieses auf Deutsch und Polnisch verfassten einzigartigen Dokuments wird an der Arbeitsstelle Holocaustliteratur gemeinsam mit Wissenschaftlern der Gießener Partneruniversität Lodz und des Staatsarchivs Lodz vorbereitet. Daran arbeitet auch Andrea Löw mit, deren Dissertation über das Getto Litzmannstadt im Anhang 24 Fotoaufnahmen zeigt. Denn vor allem Mendel Grossman und Henryk Ross versuchten mit geheimen Aufnahmen das Leben und Sterben im Getto zu dokumentieren, wollten die spätere Erinnerung an das Getto aktiv mitgestalten. Diesen Wunsch der Fotografen und der Verfasser von Tagebüchern, Berichten und der Tageschronik erfüllt Andrea Löw mit ihrer Arbeit. Sie gibt den Opfern eine Stimme und die sollte von möglichst vielen Menschen gehört werden.

Andrea Löw: Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten. Schriftenreihe zur Lodzer Getto-Chronik. Herausgegeben von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur (Universität Gießen) und dem Staatsarchiv Lodz. Wallstein-Verlag: Göttingen 2006, 584 Seiten, 46 Euro.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.01.2007: Wille zum Überleben

Das schreckliche Schicksal der Juden im Getto Litzmannstadt

Überleben durch Arbeit war die Strategie von Mordechai Chaim Rumkowski, "Judenältester" des Gettos Litzmannstadt - in einem System, das ein Überleben nicht vorsah. Die Gettos waren als Zwangsquartiere für Juden im von Deutschland besetzten Osteuropa geschaffen worden, ihre Entstehung, Organisation und Auflösung unterschieden sich erheblich, aber alle entwickelten sich zu Zwischenstationen der Vernichtung. Die in Litzmannstadt umbenannte und dem Deutschen Reich einverleibte polnische Stadt Lodz hatte das größte Getto in den eingegliederten Gebieten und damit im Deutschen Reich. Auf 4,13 Quadratkilometern ohne Kanalisation drängten sich zeitweise 200 000 Menschen in katastrophalen hygienischen Verhältnissen, davon überlebten nach optimistischen Schätzungen etwa 7000. Mehr als 45 000 Menschen starben im Getto selbst, mindestens 145 000 wurden im Vernichtungslager Kulmhof und in Auschwitz ermordet oder starben auf den Transporten dorthin.
Die Historikerin Andrea Löw konzentriert sich in ihrer Studie auf die Lebensverhältnisse der Bewohner. Sie stützt sich dabei vor allem auf in erstaunlicher Vielfalt und Anzahl erhaltene Quellen in polnischer und jiddischer Sprache, die von deutschen Forschern bisher wenig genutzt wurden. Nach einer Zusammenfassung der Verhältnisse vor dem Krieg und in den ersten Monaten der Besatzung beschreibt sie zunächst die Phase der Einschließung des Gettos am 30. April 1940. Es folgt die Schilderung der in mehreren Wellen erfolgten weiteren "Aussiedlungen" bis zum September des Jahres und der Phase zwischen Ende 1942 und Juni 1944, in der das Getto zur reinen Produktionsstätte wurde. Die Auflösung des Gettos von Juni bis August 1944, als bis auf einen kleinen Rest alle Bewohner, darunter Rumkowski, abtransportiert und ermordet wurden, bildet den Schluss der Darstellung. Dabei folgt Löw nicht immer streng der Chronologie, doch die dann teilweise mehr sachthematisch aufgebauten Abschnitte dienen bei der Vielfältigkeit der Erscheinungsformen der besseren Anschaulichkeit.
Zum "Ältesten der Juden" bestimmte die deutsche Verwaltung Mordechai Chaim Rumkowski, der schon vorher in der jüdischen Gemeinde engagiert war. Er blieb der wichtigste Ansprechpartner der "Macht", wie die deutschen Behörden im Getto genannt wurden. Er allein war den Deutschen verantwortlich und bezog daraus seine Machtfülle gegenüber den Getto-Bewohnern. Die Selbstverwaltung blieb jedoch stets eine Scheinautonomie. Rumkowski erhielt direkte Anweisungen und hatte minimalen Spielraum. Er machte sich jedoch mit großem Eifer an die ihm gestellte Aufgabe und baute innerhalb kurzer Zeit einen hochdifferenzierten Verwaltungsapparat auf. Die wichtigsten Aufgaben waren Unterbringung und Versorgung der Bevölkerung. Arbeitskraft war, nachdem alles, was auch nur irgendeinen Wert hatte, abgegeben worden war, das einzige, was die Einwohner des Gettos zu bieten hatten. Eine breite Palette von Waren wurde hier produziert, die Rohstoffe wurden bereitgestellt und dann verarbeitet, dafür wurden Lebensmittel geliefert, die allerdings nie ausreichten.
Neben der Behebung unmittelbarer Notlagen durch Gesundheitswesen und Fürsorge für Bedürftige hatten Bildung für Kinder und Jugendliche sowie Theater und Konzerte einen hohen Stellenwert. Wichtig für die Menschen war, mit dem Fortbestehen des kulturellen Lebens an die Zeit vor dem Krieg anzuknüpfen und durch die Schulen in die Zukunft zu investieren. Diese Anknüpfung an eine Normalität trug zum Überlebenswillen wesentlich bei. Eine eigene Abteilung der Verwaltung widmete sich der Dokumentation, die bewusst auch Quellen für Historiker späterer Zeiten schaffen sollte.
Die hierarchische Struktur schuf auch soziale Unterschiede, und ein zentrales Thema war die Verteilung der Lebensmittel. Um seine Macht durchzusetzen, standen Rumkowski eine Polizei - der "Ordnungsdienst" -, ein Justizapparat und auch Strafvollzug zur Verfügung, und er machte Gebrauch davon. Unmut und Groll über die Lebensverhältnisse richteten sich in der Folge vor allem gegen Rumkowski und nicht gegen die eigentlichen Urheber. Die Einweisung von 20 000 Juden aus dem Deutschen Reich sorgte durch Sprachschwierigkeiten und Mentalitätsunterschiede für erhebliche Spannungen, eine vollständige Integration gelang nie.
Zu den Aufgaben der Selbstverwaltung zählte auch die Auswahl derjenigen, die deportiert werden sollten. Etwa fünf Monate nach den ersten Transporten erreichten Litzmannstadt erste Informationen über das schreckliche Schicksal dieser Menschen. Die Verwaltung entschied weiterhin, wer zu den Transporten eingeteilt wurde, im festen Glauben, Schlimmeres zu verhüten. Tatsächlich schockierte das brutale Eingreifen der Deutschen, als die vorgegebene Anzahl nicht rechtzeitig erreicht wurde, die Bevölkerung dermaßen, dass dieses Mittun gerechtfertigt schien. Historische Analyse und Bewertung werden hier schwierig, doch Andrea Löw nimmt sie abwägend und sensibel vor. Im Mittelpunkt dieser sorgfältigen Untersuchung steht nicht die Frage, wie es zur Judenverfolgung kam, sondern wie sie sich im konkreten Fall von Litzmannstadt auf die Menschen auswirkte. Andrea Löw gelingt es, dies für eine Vielzahl von Aspekten darzustellen.

KLAUS A. LANKHEIT.

Andrea Löw: Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 584 S., 46,- [Euro].

Hagener Rundschau, 20.01.2007: Die Geschichte der Juden im Getto Litzmannstadt

Die Hagenerin Dr. Andrea Löw lernte für die Recherche Polnisch und Jiddisch – Ein Jahr Spurensache in Polen

Von Jens Helmecke

Hagen. Über den Holocaust ist bereits viel geschrieben worden. Denkt man an Gettos, fällt schnell das Stichwort Warschau. Die Hagener Historikerin Dr. Andrea Löw hat mit ihrer Doktorarbeit über die Gettoisierung der Juden in Lodz Neuland betreten. Sie gewährt einen neuen Blick auf die dramatischen Geschehnisse zwischen 1939 und 1945, weil er erstmals von innen kommt.

Statt allein über die Ereignisse und die damit verbundenen menschlichen Schicksale zu schreiben, hat sich die 34-Jährige auf die Suche nach Originalquellen gemacht. Aufzeichnungen der Gettobewohner, ihre Tagebücher, teils auf deutsch, polnisch oder jiddisch verfasst, hat Löw lange untersucht, mit Überlebenden gesprochen. Um die Opfer selbst zu Wort kommen lassen zu können, lernte sie an der Uni Krakau polnisch, eignete sich Jiddisch an und studierte 2003/2004 ein Jahr lang in polnischen Archiven, hauptsächlich in Warschau. "Ich habe mich schon früh im Studium für das Thema Holocaust interessiert." Der israelische Historiker Saul Friedländer brachte die Hagenerin im Gespräch auf die Idee, die Originalquellen zu erforschen.
In besonderer Weise ist es Andrea Löw dabei gelungen eine bedeutende wissenschaftliche Arbeit zu verfassen, die es auch dem Laien ermöglicht, einen Zugang zu diesem Thema zu finden. Löw hat es geschafft, aus hunderten Quellen, Zeugnissen der Geschehnisse, eine ebenso spannende wie bewegende Geschichte im besten Sinn zu verfassen. Sie schildert die Zeit von 1939 bis 1945, in der in Lodz anfänglich rund 233 000 Juden lebten, in einer beinah romanhaften Weise. Nicht immer zur Zufriedenheit ihres Doktorvaters, aber "ich wollte, dass auch Nicht-Historiker sich für dieses Thema interessieren", sagt Löw.
45 000 Juden kamen zwischen `39 und `45 im Getto Litzmannstadt, wie die Deutschen Lodz nannten, um.
Einige konnten flüchten, viele wurden in die Konzentrationslager deportiert. Am Ende überlebten nur ein paar hundert von ihnen die Befreiung durch die Rote Armee.
Die Gettobewohner wollten mitbestimmen, wie später an die Verbrechen erinnert wird. Auf der Spurensuche fand Löw die zentralen Figuren in der Geschichte des Gettos und etliche, die den Alltag regelmäßig aufgezeichnet haben. Mordechai Chaim Rumkowski etwa bestimmte die Geschicke im Getto wesentlich – und stand bei vielen Juden heftig in der Kritik. In ihren Augen machte er sich zum Handlanger. Rumkowski organisierte die Stadt in der Stadt bis hin zur Gettoregierung, die scheinbar über Wohl und Wehe entschied – solange die Deutschen sie ließ.
Liest man das beinah 600 Seite starke Buch, "erscheinen die Menschen im Getto nicht mehr als anonyme, statistisch erfasste Opfermasse, sondern als Individuen mit einer je eigenen Geschichte", hofft die Autorin.

Dr. Andrea Löw liest am 14. Februar um 20 Uhr in der Buchhandlung Thalia (Hagen) aus ihrem Buch.

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