am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Insa Eschebach (Hrsg.): Was bedeutet Gedenken? Kommemorative Praxis nach 1945

Von Sandra Binnert

Der Sammelband „Was bedeutet Gedenken? Kommemorative Praxis nach 1945“ geht auf ein Kolloquium aus dem Spätsommer 2020 zurück, das anlässlich des Abschieds von Insa Eschebach aus ihrem Amt als Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück stattfand. Im Zentrum des Bandes steht nicht nur die titelgebende Frage, sondern auch eine systematische Auseinandersetzung mit Feldern des Gedenkens: An welchen Orten findet sie statt? Welche Konflikte entstehen rund um ritualisierte Erinnerung? Und: Welche gesellschaftlichen Entwicklungen zeichnen sich ab, die auf das Gedenken einwirken?

Damit ist bereits das sehr breite Anliegen des Sammelbandes umrissen. In der Einleitung werden 12 Aspekte von kommemorativen Praktiken benannt. Dabei geht es darum, dass Gedenken zunächst einmal die Funktion habe, die Komplexität der Geschehnisse zu reduzieren, und dass die Auswahl der zu gedenkenden Ereignisse im kollektiven Bereich einer „programmatischen Selektion“ (S.12) unterliegen. Beim öffentlichen Gedenken handelt es sich um Prozesse, die auf eine Wir-Bildung aus sind. Damit wird die Erinnerungskultur in Deutschland zu einem identitätsstiftenden Merkmal, das die Gesellschaft nicht unerheblich beeinflusst. Das politische Spannungsfeld, das sich aus der runtergebrochenen Formel ‚wer, wann, wo und was erinnert wird‘ eröffnet, wird in diesem Band perspektivenreich dargestellt. Dabei gliedert er sich in drei übergeordnete Bereiche: Orte, Konflikte, Entwicklungen.

Orte des Gedenkens können immer wieder Teil von Auseinandersetzungen werden. Häufig stehen Fragen der Authentizität und des Zugangs im Zentrum. Thomas Schaarschmidts Artikel mit dem Titel „Der Ort des Gedenkens. Authentizität, Dezentralität, Virtualität“ geht der Entwicklung von Gedenkorten nach. Während den Ausgangspunkt die Gedenkstätte bildet, werden auch dezentrale Erinnerungsformen thematisiert, wie etwa das Stolpersteinprojekt sowie die Ausweitung von Gedenkorten in den virtuellen Raum. Es gibt eine lange Tradition des ortsgebundenen Gedenkens, als Beispiel nennt hier Schaarschmidt etwa Friedhöfe. Gedenkstätten, als historische Orte von Verbrechen, werden hingegen häufig mit der Erwartung nach Authentizität besucht: „Da, wo es gelingt, Relikte aus unterschiedlichen Zeitschichten am selben Ort nebeneinander zu präsentieren, steht der Anspruch, die Historizität des Gezeigten bewusst zu machen, oft in einem Spannungsverhältnis zu den Authentizitätserwartungen und Erlebnisbedürfnissen der Besucherinnen und Besucher“ (S. 41). Schaarschmidt sieht darin ein wichtiges Potenzial von Gedenkstätten.

Heidemarie Uhl widmet sich mit „Die Last der Orte. Gedenkstätten und Gegenwartsbezug im historischen Wandel“ einer neuen Erinnerungskultur. Am Beispiel von österreichischen Gedenkstätten und Ausstellungen zeichnet Uhl nach, wie Gedenkstätten mit dem Wandel der Zeit mitgehen und sich weiterentwickeln. Gedenkstätten sollen grundlegende moralische Werte vermitteln, die ein Miteinander und Toleranz fördern. Als eine zentrale Herausforderung des historisch-politischen Bildungsauftrages von Gedenkstätten wird die stete zeitgenössische Reflexion beschrieben: Welche (positiven) Lehren können aus dem Ort des Grauens für das aktuelle Leben gezogen werden?

Habbo Knochs Aufsatz „Metropolen des Todes“ beschäftigt sich anhand zahlreicher Beispiele mit der Narrativierung der Lager mit einem Fokus auf die Erzählbarkeit von Räumen. Die Darstellung historischer Orte und Räume waren einerseits für die Verarbeitung des Geschehens von Überlebenden zentral: „Das Lager wurde […] zur dramatischen Bühne einer autobiographischen Kontinuitätsstiftung“ (S. 86), so Knoch. Andererseits fand auch ein Umdenken der Verantwortlichen der Gedenkstätten statt; es ging nicht nur darum, die Orte zu rekonstruieren, vielmehr wurde das Lager und damit der Erinnerungsort zu einem „erzählbaren Raum“ (S. 90).

In dem mit „Konflikte“ betitelten Abschnitt behandeln mehrere Artikel den Bereich der Opferkonkurrenzen im Rahmen der Anerkennung und der Erinnerungskultur. Detlef Grabe etwa analysiert aus einer persönlichen Beobachtung einer Gedenkveranstaltung heraus, dass sich das Gedenken an die Opfer der Nationalsozialisten immer an die spezifischen Gruppen richte. Die nationalsozialistische rassistische Einteilung der Opfer in verschiedene Gruppen und die entsprechende Markierung mit Winkeln, zog auch nach 1945 noch Diskriminierungen und Diffamierungen für die Betroffenen nach sich. Ein Beispiel ist die Entwicklung der Aufarbeitung der Geschichte von Menschen, die auf Grund ihrer Homosexualität verfolgt wurden. Hier wird aufgezeigt, vor welchen politischen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten Opfergruppen stehen können.

Corinna Tomberger vertieft diese Perspektive in ihrem Beitrag „Die Ordnung des Gedenkens“ und fokussiert die Entscheidungen, die hinter Gedenksteinen und -tafeln stehen. Dabei umreißt sie vor allem das Feld des sozialen Ausschlusses aus dem Gedenken. Sie widmet sich hierbei den als lesbisch verfolgten Menschen in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück und zeichnet den Kampf nach, den ein Bündnis von queeren Initiativen und Vereinen mit Erfolg aufgenommen hat. In Ravensbrück wird nun auch der lesbischen Menschen gedacht, die inhaftiert wurden. Sie geht in ihrem Beitrag auch auf die Gedenkkonstellation ein, die das weniger bekannte Männerlager in Ravensbrück lange Zeit ausschloss.

In dem Bereich „Entwicklungen“ geht Thomas Rahe zurück zu den Anfängen: „Die Anfänge des Holocaust-Gedenkens. Erinnerungskultur in den jüdischen Displaced-Persons-Camps“. In diesem Aufsatz werden die widerständischen Bemühungen von jüdischen Displaced-Persons in den Fokus gerückt. Dabei geht es um das minutiöse Dokumentieren der nationalsozialistischen Verbrechen (wie etwa das umfangreiche Sammelprojekt Fun letstn Churbn oder Oneg Schabbat), das Reenactment von Todesmärschen auf Theaterbühnen für einen karthatischen Effekt und der Ermittlung vermisster und ermordeter Personen. Außerdem zeichnet der Beitrag nach, wie eine neue, jüdische Gedenkform entstand.

Matthias Heyl hat ebenfalls einen ausführlichen Beitrag zum Sammelband geleistet: „Zur psychoanalytischen Dimension des Trauerns und Gedenkens“. Hier reinterpretiert er eine von ihm getroffene Feststellung, die die von Alexander und Margarete Mitscherlich beschriebene ‚Unfähigkeit zu trauern‘ betrifft. Im Zentrum stehe hier vielmehr, dass die Unfähigkeit sich eher darauf bezog, dass sich die Menschen in Deutschland nach dem Krieg von den eigenen zuvor positiv besetzten nationalsozialistischen Überzeugungen und Glaubenssätzen lösen mussten. Er konstatiert, dass es „eine lange Praxis der Erinnerungsverweigerung in den deutschen Nachkriegsgesellschaften mit Blick auf die Täterschaft“ (S. 352) gibt, und ein „Eindruck einer Tat ohne Täter“ (ebd.) bleibt. Er plädiert in dem Beitrag nachdrücklich dafür, dass eine Öffnung hin zu einer Auseinandersetzung mit den Täter:innen stattfinden muss.

Die hier vorgestellten Artikel bilden nur einen kleinen Einblick in den umfassenden und gelungenen, von Insa Eschebach herausgegebenen, Sammelband. Es werden nicht nur gängige Perspektiven neu beleuchtet, sondern auch Bereiche eingeschlossen, die sich rund um die (Macht-)Strukturen des Erinnerns und Gedenkens drehen. Der Sammelband bietet viele Anknüpfungspunkte, um sich der Erinnerungskultur auf theoretischer Ebene zu nähern und regt zum Weiterdenken an.

Insa Eschebach (Hg.): Was bedeutet Gedenken? Kommemorative Praxis nach 1945.
Berlin: Metropol Verlag 2023
392 Seiten, 29 Euro
ISBN: 978-3-86331-693-8


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