am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

In Gedenken an Anna Mettbach

06.11.2017

Am 26. Januar 2016 wäre die Sintezza Anna Mettbach, die Auschwitz überlebt hat und im November 2015 leider verstorben ist, 90 Jahre alt geworden. Wir möchten an diesen Tag mit einem kurzen Auszug aus ihrem 1999 veröffentlichten autobiographischen Zeugnis „Wer wird die nächste sein?“ an Anna Mettbach erinnern.

Im ‚Zigeunerlager’ Auschwitz-Birkenau: „Bin ich es?“

Im Frauenlager, wo ich mich zu dieser Zeit noch befand, war es hart, und ich glaube, außer mir gab es keine andere Sintezza dort. Anfang 1944 wurde ich ins Zigeunerlager überstellt. Nun kam ich in dieses Lager, das ich mit den anderen aufgebaut hatte, und hier sah ich die totale Vernichtung.
Die Sterberate war im Zigeunerlager besonders hoch, denn neben der schweren körperlichen Arbeit war das Lager so erbaut worden, daß nicht ein Mindestmaß an Hygiene vorhanden war. Typhus, Fleckfieber, Krätze, Tuberkulose, alle diese Krankheiten waren in Auschwitz tödlich.

Was wir tagtäglich an Entwürdigungen über uns ergehen lassen mußten, darüber will ich nichts sagen.

Was die Situation verschärfte, war die Tatsache, daß die Baracken des Zigeunerlagers auf dem blanken Feldboden standen. Im Frauenlager hatten wir wenigstens die Pferdeställe mit Fußböden als Unterkunft. Wenn es regnete, standen wir Sinti und Roma knöcheltief im Schlamm, und im Winter war der Boden in den Schlafräumen gefroren. Nicht nur im Krematorium wurden die Toten verbrannt, nein, die ausgemergelten Leichen von Kindern, Frauen und Männern wurden neben dem Block ca. zwei Meter hoch gestapelt. Was von der Vernichtung durch Arbeit übrigblieb, das nahmen sich die Ratten. Diese fraßen sich durch die Leiber der Toten, und Fliegen krochen aus den Augen, aus der Nase, aus dem Mund, ja sogar aus den Ohren heraus. Die Krematorien waren Tag und Nacht in Betrieb. Aber wenn viele Züge ankamen, reichte die Kapazität der Verbrennungsöfen nicht aus, dann wurden die aufgestapelten Leichen angezündet. Es kam dabei immer wieder vor, daß einer der Aufgestapelten noch gar nicht tot war. Man sah diese in ihrem Todeskampf noch zucken. Sie wurden bei lebendigem Leib verbrannt. Über dem Zigeunerlager lag stets ein Grauschleier, die Sonnenstrahlen konnten nicht mehr durchkommen. Wenn die Lastwagen nachts ins Lager zurückfuhren, wußten die Häftlinge, jetzt wird wieder nach Gebrauchswert selektiert. Wer krank oder nicht arbeitsfähig war, der durfte nicht mehr sein. Kinder wurden ihren Müttern entrissen, ihre Schreie durchdrangen Mark und Bein, es war die pure Gewalt. ‚Arbeit macht frei“, aber wenn du nicht mehr arbeiten kannst, dann wirst du vom Leben befreit.

Normalerweise wurden die Ausselektierten mit den Lastwagen zu den Gaskammern gefahren, aber es wurden auch manche Kinder sofort an Ort und Stelle ermordet. Die Mutter wurde dann mit Gewehrkolbenschlägen von dem Kind weggetrieben, und dieses wurde so lange auf den Boden geschlagen, bis es tot war. Zu einer solchen Mordaktion sagte die SS: „Gas gespart.“

Die SS mordete fließbandmäßig. Diese Monotonie des Mordend wurde jedoch ab und an durchbrochen: Man gönnte sich ja sonst nichts, warum nicht mal ein Spektakel, eine Treibjagd veranstalten. Ein Häftling mußte seine Mütze so weit es ging wegwerfen. Wenn dies für die SS noch zu nah war, hatte der Häftling seine Mütze auf einen bestimmten Punkt zu legen. Dann mußte er wieder zum Ausgangspunkt zurück. Nun kam die obligatorische Frage: „Wo ist deine Mütze?“

Es bedurfte keiner Antwort, denn der nächste Befehl lautete:

„Hol die Mütze!“

Solche Männer hatten keine Hoffnung, sie hatten keine Chance, dieses barbarische Vergnügen zu überleben. Sie wußten, bin ich ungehorsam, werde ich erschossen. Und doch, obwohl die Männer ohne Mütze den Endpunkt kannten, gab es von ihnen kein äußerliches Aufbäumen mehr. Sie taten, was ihnen befohlen wurde. Ich hatte das Gefühl, daß sie sich in dem Moment des Befehls von ihrem Menschsein verabschiedeten und nur noch ihre Funktion als „Hase“ erfüllten.

Für diese „spaßige Unternehmung“ nahmen die SSler keine „Muselmänner“, die nur noch Haut und Knochen waren. Der „Hase“ sollte noch bei Kräften sein, und er hatte auch wie ein „Hase“ zu hüpfen. Mit einem Kranken oder Halbverhungerten hätte doch die Treibjagd nur halb so viel Spaß gemacht. Nach einigen Minuten kam dann der Befehl:

„Mütze aufheben!“ Und dies waren die letzten Worte, welche die Männer ohne Mütze hörten.

Wir waren die „Untermenschen“, die anderen, die gehörten einer „Herrenrasse“ an. Diese „Herrenmenschen“ mordeten aus purem Vergnügen, und zu Weihnachten gingen sie heim und feierten das Fest der Liebe und des Friedens. Sie gingen vielleicht zu Frau und Kind, waren liebend und zuvorkommend zu ihnen und machten ihnen Geschenke, und als treusorgende Väter erhielten sie ebenfalls Geschenke. Wie kann Liebe und Vernichtung in einer Haut gedeihen? Wie kann beides in einem Menschen vorhanden sein?

 

Anna Mettbach: Wer wird die nächste sein?: Die Leidensgeschichte einer Sintezza, die Auschwitz überlebte. Brandes & Apsel 1999.


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