am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Exkursion in die Gedenkstätte Hadamar für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen am 7. Juni 2025

Am 7. Juni unternahm die Seminargruppe der erstmals angebotenen Lehrveranstaltung „Geschichte(n) bewahren, Zukünfte gestalten – Nachhaltiges Lernen über und aus dem Holocaust im globalen Kontext“, geleitet von Jennifer Ehrhardt und Felix Luckau, eine ganztägige Exkursion zur Internationalen Gedenkstätte der ehemaligen NS-Tötungsanstalt Hadamar bei Limburg (Mittelhessen). Zwischen 1941 und 1945 wurden dort etwa 15.000 Menschen ermordet, die von den Nationalsozialisten als „lebensunwert“ stigmatisiert wurden. An der Tagesexkursion nahmen 16 Studierende des Studienprogramms Liberal Arts and Sciences (LAS) der JLU Gießen teil. Ziel war eine vertiefte Auseinandersetzung mit den historischen Hintergründen und ideologischen Grundlagen der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen sowie mit den individuellen Schicksalen der Opfer.

Vorbereitet auf die Studienfahrt wurden die Teilnehmer:innen in den vorausgegangenen Seminarsitzungen. Diese befassten sich unter anderem mit Holocaust Education als integraler Bestandteil der Global Citizenship Education, die im Rahmen der Agenda 2030 der UNESCO eine Schlüsselrolle einnimmt. Das Seminar untersuchte insbesondere die Bedeutung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust für die Bewahrung und Förderung demokratischer Werte sowie für die Umsetzung der Sustainable Development Goals (SDGs). Besonderes Augenmerk wurde auf die Rolle von Gedenkstätten als außerschulische Orte der Wissensproduktion und -vermittlung gelegt. Die Wahl des Gedenk- und Lernorts Hadamar als Exkursionsziel beruhte dabei nicht allein auf der geografischen Nähe. Vielmehr trägt die JLU Gießen aufgrund ihrer eigenen Geschichte eine besondere Verantwortung für das Gedenken an die „Euthanasie“-Morde: Nicht nur war die Universitätsklinik der damaligen Ludwigs-Universität maßgeblich an den an Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen durchgeführten Zwangssterilisationen beteiligt, auch die ehemalige „Landesheilanstalt” in Gießen spielte eine aktive und willfährige Rolle bei der Durchführung der systematischen Tötungen in Hadamar.

Ergänzend rückte das Seminar die Frage in den Blick, wie Holocaustliteratur zur Entwicklung von Empathie, kritischem Denken und moralischer Urteilskraft – und damit auch zur Demokratiebildung – beitragen kann. Grundlage hierfür war unter anderem der von Christoph Schneider herausgegebene Band Hadamar von innen, welcher 2020 als 10. Band der Schriftenreihe der AHL und der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich erschienen ist. Das Werk stellt ein wichtiges Korrektiv zur bisherigen Geschichtsschreibung über die NS-Tötungsanstalt Hadamar dar, die sich lange Zeit vorwiegend auf Aussagen und Dokumente der Täter:innen stützte, indem es konsequent den Stimmen der Überlebenden und Hinterbliebenen Raum gibt.


An diese inhaltliche Auseinandersetzung knüpfte der Studientag in der Gedenkstätte Hadamar an, der den Studierenden die Möglichkeit bot, die zuvor erarbeiteten Themen am historischen Ort zu vertiefen. Er begann mit einer interaktiven Übung, bei der die Studierenden ausgewählte historische Zitate aus der Zeit vor dem NS-Regime bis zum 21. Jahrhundert auf einer Zeitachse einordneten. Dies veranschaulichte, wie früh eugenische Ideologien entstanden und in welcher Form sie bis heute nachwirken. Im Anschluss führte Eva-Maria Nitz, Guide der Gedenkstätte Hadamar, die Gruppe über das Gelände der ehemaligen Mordanstalt. Während der etwa dreistündigen Führung, die sich auf die zentral gesteuerte erste Phase der NS-„Euthanasie“, später bekannt als „Aktion T4“, konzentrierte, besuchten die Studierenden zunächst die restaurierte Busgarage – jenen Ort, an dem die Patienten ankamen, nachdem sie in den berüchtigten grauen Bussen aus Zwischenanstalten nach Hadamar transportiert worden waren.

Die Führung auf den Spuren der Opfer führte die Teilnehmenden anschließend durch den einstigen sogenannten Auskleideraum, der heute die Dauerausstellung der Gedenkstätte beherbergt, sowie in die Kellerräume mit der ehemaligen Gaskammer und den früheren Standorten der Krematorien. Bis zum Stopp der „Aktion T4“ im August 1941 ermordete das medizinische Personal der angeblichen Heil- und Pflegeanstalt dort in nur etwa acht Monaten 10.500 Menschen, überwiegend psychisch Kranke und Menschen mit Behinderungen.

Im anschließenden Workshop rekonstruierten die Studierenden in Kleingruppen anhand von historischen Patient:innenakten die Schicksale von Opfern der sogenannten „dezentralen Euthanasie“. In dieser zweiten Phase wurde nicht mehr durch Vergasung, sondern vorwiegend mittels gezielter Medikamentenüberdosierung oder Mangelernährung getötet. Zwischen 1942 und 1945 fielen dieser Mordpraxis in Hadamar weitere 4.500 Personen zum Opfer.

Der Studientag fand seinen Abschluss in einem Gang über den angrenzenden Anstaltsfriedhof, der seit 1968 als umgestaltete „Gedenklandschaft“ an die Verfolgten und Ermordeten der NS-„Euthanasie“ erinnert. Auf einer Stele ist in Großbuchstaben mahnend der Satz eingemeißelt: „Mensch achte den Menschen“.

Die Frage nach den eigenen Eindrücken und Gefühlen in Hadamar stand im Fokus des Nachtreffens der Gruppe. Besonders prägend empfanden viele den Aufenthalt im Kellerbereich der ehemaligen Tötungsanstalt, der für sie sinnbildlich Hannah Arendts Konzept der „Banalität des Bösen“ verkörperte. In der Plenumsdiskussion wurde auch der Bogen zur Gegenwart geschlagen: Wo zeigen sich heute Rassismus und Verfolgung? Warum bleibt die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auch acht Jahrzehnte nach Kriegsende von besonderer Bedeutung – nicht nur als Mahnung, sondern als Grundlage für eine gerechte(re) Zukunft? Auch aus der Diskussion erwuchs die Überzeugung, dass es notwendig ist, sich aktiv gegen Menschenrechtsverletzungen zu stellen, und dass jeder Mensch durch sein Handeln zur Gestaltung der Gesellschaft und der Zukunft beiträgt.

Die Eindrücke dienten im weiteren Verlauf des Seminars als Impuls, um erste konzeptionelle Entwürfe für regionale Gedenkprojekte innerhalb des eigenen Fachschwerpunkts zu erarbeiten. Ende Juli präsentierten die Seminarteilnehmenden ihre Projektideen im Rahmen einer studentischen Konferenz. Diese reichten von einem digitalen multiperspektivischen Stadtrundgang zu Gießen in der Zeit des Nationalsozialismus über ein pädagogisches Kartenspiel zur NS-„Euthanasie“ bis hin zu einer interaktiven Gedenkstele, die an vertriebene und ermordete jüdische Studierende und Lehrende der Gießener Universität erinnern soll.

Eingebettet in das Modul „Residential II – Future Thinking“ des Orientierungsjahres im LAS-Programm, das in diesem Sommersemester erstmals von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur inhaltlich gestaltet wurde, verstand sich das Seminar als Pilotprojekt zur festen und dauerhaften Verankerung von Demokratieförderung sowie Faschismus- und Rassismusresilienz im Curriculum des seit dem Wintersemester 2023/2024 angebotenen Studiengangs. Ziel dieses Vorhaben ist es, Lehr- und Lernmethoden zu entwickeln, die Studierende nicht nur akademisch bilden, sondern auch persönlich als aktiv Teilhabende und Gestaltende in der Demokratie stärken. Die Seminarleitenden Ehrhardt und Luckau betonen in diesem Zusammenhang: „,Nie wieder‘ beginnt mit dem Wissen um das, was war. Doch unsere Gedenkarbeit kann nur dann nachhaltig sein, wenn sie junge Menschen befähigt, aktiv an ihr teilzunehmen und Verantwortung zu übernehmen – im Heute und für das Morgen.“


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