am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

"Arbeitstage"

Zur Holocaustliteratur in einem engeren Sinne gehört die Erzählung von Milan Bulaty nicht, sicher aber zum Diskursfeld der Holocaustliteratur. Denn der Holocaust und die politischen Ereignisse, die Ende des Zweiten Weltkriegs in Tschechien folgten, bilden einen wesentlichen Kern der assoziativ, fragmentiert und sprunghaft geschilderten Erinnerungen und Gedanken des erzählenden Ichs.

Im Grunde passiert auf der äußeren Handlungsebene nicht viel; der Ich-Erzähler, ein tschechischer Emigrant mit jüdischen Wurzeln, der in Berlin lebt und dort Direktor einer Universitätsbibliothek ist, steht an einem gewöhnlichen Morgen auf, fährt von der Güntzelstraße über die Haltestellen Spichernstraße, Kurfürstendamm, Zoologischer Garten, Tiergarten, Bellevue und Hauptbahnhof bis zu seinem Arbeitsplatz in der Nähe der Friedrichsstraße und kehrt auf derselben Route in umgekehrter Reihenfolge am Abend nach Hause zurück. Im Hinblick darauf ist auch der Titel „Arbeitstage“ zu verstehen – geordnet wird die äußere Handlung der Erzählung örtlich und zeitlich durch die Struktur eines normalen und repräsentativen Arbeitstags und die Bewegung des Erzählers durch den Berliner Berufsverkehr. Die Handlungen und Beobachtungen in der erzählerischen Gegenwart dienen dabei lediglich als Auslöser und Impulsgeber für eine Fülle unterschiedlichster Erinnerungen und Überlegungen des Erzählers. Beinahe minutiöse und zeitdehnende Schilderungen banalster und alltäglicher Verrichtungen, wie Zähneputzen, Duschen oder Beobachtungen bezüglich anderer Fahrgäste, werden durchbrochen und vermischt mit zahlreichen Erinnerungsfragmenten – oft an traumatische und den Erzähler prägende Ereignisse. Dabei handelt es sich sowohl um sekundäre Erinnerungen an das Schicksal der jüdischen Eltern im Holocaust, die Auschwitz, Buchenwald und Theresienstadt überlebt haben, als auch um eigene Erinnerungen an die Kindheit in der Tschechoslowakei, die Flucht über Rumänien in die Schweiz und das Leben in Deutschland. Diese und andere Erfahrungen durchdringen immer wieder die gegenwärtigen Wahrnehmungen, Empfindungen und Reflexionen. Gleichzeitig misstraut der Erzähler diesen und dem Eindruck von Kohärenz, die sie bewirken: „In meinem Leben entschied sich viel, auch Wichtiges, mehr oder weniger zufällig. Mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt und kann dem etwas abgewinnen. Die Eltern, das Land, die Frau, das Kind, der Beruf – das ergab sich alles einfach so. Nachträglich Gründe zu konstruieren bringt nichts. Sie befriedigen das Bedürfnis nach Verständnis, nach einer Erklärung mit Ursache und Wirkung“ (S. 39). Auch das Überleben der Eltern sei letztlich nur Zufällen zu verdanken, ebenso wie die Tatsache, dass sich die beiden nach Kriegsende überhaupt wiederfanden. Denn der Vater wurde nach einem Todesmarsch von Auschwitz nach Buchenwald, wo er nach der Ankunft zusammenbrach, zunächst von kommunistischen Mithäftlingen gerettet und dann auf der Liste der Häftlinge gegen einen verstorbenen Menschen ausgetauscht. Diese Begebenheit führte jedoch auch dazu, dass er sich noch in den 1990er Jahren, als an die Wände der Pinkas-Synagoge in Prag Namen und Lebensdaten tschechischer jüdischer Opfer geschrieben wurden, auf der Liste der Toten befand. Der Bruder des Ich-Erzählers entdeckte zufällig bei einem Besuch der Synagoge den Namen des Vaters an der Wand. Als er dem immer noch mit dem Anbringen von Namen beschäftigen Maler mitteilte, dass der Vater noch am Leben sei, erwidert dieser lediglich: „‚Tja, da kann ich jetzt nichts mehr dran ändern, das wäre zu viel Arbeit’“ (S. 41).

Obwohl er seinen Erinnerungen misstraut, formt der Erzähler Erlebnisse zu kohärenten Narrativen, um sie überhaupt im Gedächtnis behalten und sie „ertragen und anderen erzählen“ (S. 104) zu können: „Es bleiben wenige Erinnerungsfetzen in meinem Kopf. Am besten halte ich sie fest, indem ich sie als Anekdote weitererzähle“ (S. 75). Dadurch verändern sich die Geschichten: „Ich dichte etwas Lustiges dazu oder mache die Geschichte spannender, als sie in Wirklichkeit war. Ich flechte unbewusst einen einfachen Faden, damit alles verständlicher wird und lasse Umwege, Irrwege, Zweifel weg. Meine Tolpatschigkeit spitze ich zu, damit meine Zuhörer lachen. Nach einigen Jahren weiß ich selbst nicht mehr, was tatsächlich geschehen ist, was ich erdichtet habe, weil ich es so gewünscht habe, dass ich jetzt fest daran glaube. Wenn ich jemanden täusche, dann zuerst mich“ (S. 62).

Dabei, so scheint es, tut er gerade das nicht (mehr). Viel eher weist er permanent auf seine eigenen Unzulänglichkeiten hin, weil es ihn „innerlich befreit“ (S. 104). So gibt er intimste und wenig schmeichelhafte Details aus seinem Leben preis, etwa die eigenen sexuellen Triebe und Seitensprünge, aber ebenso die seiner Frau. Auch die zumindest zeitweilige Enttäuschung darüber, dass der Beruf als Bibliothekar sich für ihn als passionierten Leser in vielen Bereichen nur als ernüchternde Routine erwiesen hat, legt er offen. Eigentlich sei es egal, ob er eine Bibliothek oder eine Konservenfabrik organisiere, formuliert er bewusst übertrieben. Beide seien dem Menschen nützlich und in beiden gehe es vorwiegend um Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit.
Überlegungen dazu, wie Menschen sich selbst und andere täuschen, durchziehen die gesamte Erzählung. Die Eltern wurden von den Menschen getäuscht, denen sie im Prag ihre Möbel und Wertsachen zur Aufbewahrung gegeben hatten, als sie ins Lager mussten. In „guter Absicht“ (S. 106) täuschten sie später sich selbst und ihre Kinder, indem sie verdrängten, um sich nicht erinnern zu müssen. Auch der Erzähler „täuschte andere, bis ich selbst getäuscht war“ (S. 105). So bleibt auch das Verhältnis zur eigenen Familie  – trotz der Liebe der Eltern zu ihren Kindern und ihrem Wunsch nach Harmonie und Nähe unter den Familienmitgliedern – aufgrund allzu vieler enttäuschter Erwartungen und ungesagter Dinge ambivalent und schwierig. Die Unfähigkeit, Konflikte offen zu verhandeln, über das zu sprechen, was schmerzt oder wütend macht, führt zu Distanz: „Wir teilen mehr Gemeinsamkeiten als mit anderen Menschen, aber das alles führt nicht zu mehr Verständnis und Sympathie, geschweige denn Freundschaft. Zwischen uns war mit der Zeit ein Unverständnis entstanden, das unterschwellige Aggressionen, Kämpfe und Enttäuschungen aus unserem früheren Zusammenleben enthielt“ (S. 47).

Das ständige Reflektieren, Relativieren und in Frage stellen der eigenen Erinnerungen, Gedanken und Empfindungen ist in der Erzählung ebenso Ausdruck einer persönlichen Familiengeschichte als auch eines allgemeinen Zeitgeists und einer kollektiven Verunsicherung über die Konstruktion und Fragilität von Identität und Erinnerung. Diese beiden Ebenen – die private und die kollektiv gesellschaftliche – werden dabei sehr überzeugend und glaubwürdig verknüpft und präzise und unaufgeregt geschildert. Nichts erscheint daran banal oder stereotyp.
Auch die Mischung aus dem Reflektieren eigener Denk- und Wahrnehmungsmuster samt Schilderungen eines in weiten Teilen banalen Alltags auf der einen Seite und den außergewöhnlichen, ganz und gar nicht alltäglichen Ereignisse, die die persönliche und familiäre Geschichte des Erzählers prägen, auf der anderen Seite, macht es einerseits leicht, sich mit den Gedanken und Empfindungen des Erzählers zu identifizieren, andererseits verstört sie aber auch. „Arbeitstage“ zwingt den Leser, über seine eigenen Systeme, Erinnerungen zuzulassen, abzuwehren und zu narrativieren, nachzudenken.

„Ich bestimme nicht, was bleibt und was verschwindet. Unbewusst erhalten bleibt, womit das Selbstbild gut zurechtkommt. Einige Erinnerungen sind immer fest mit mir verbunden. Sonst hätte ich keine Geschichte, wäre ohne meine Geschichte“ (S. 138f.), so der Erzähler über die ihn definierenden Lebensnarrative. Das gilt unweigerlich für jeden Menschen.

Der Verlag weist das Buch im Klappentext als ein „Geflecht aus Autobiographie und Fiktion“ aus und in der Tat weist die Biographie des Ich-Erzählers in wesentlichen Teilen Übereinstimmungen mit der des Autors Milan Bulaty auf. Diese Kombination aus Fiktion und Lebensgeschichte ist sehr gelungen und absolut lesenswert. Aber auch ohne diese autobiographische Verbindung zeigt die Erzählung, dass der Mensch dem Geflecht aus Erinnerung und Narration, aus Empfinden und sich-Erfinden nicht entkommt. Sie zeigt zudem, wie der Holocaust, ohne auf der Handlungsebene wirklich präsent oder auch nur selbst erlebt zu sein, auf eine beinahe selbstverständliche und unvermeidbare Art und Weise den Alltag und die ‚Arbeitstage‘ auch der Nachkommen prägt. Bulaty erzählt eindringlich davon, wie diese Ereignisse auch in der Gegenwart präsent sein können und dass das Erzählen über den Holocaust auch weiterhin ‚aktualisierbar‘ und noch lange nicht abgeschlossen ist, auch wenn sich die Formen und Inhalte (notwendigerweise) verändern und erweitern.

 

Von Charlotte Kitzinger

 

Milan Bulaty: „Arbeitstage“

Berlin: Hentrich und Hentrich Verlag, 2017

152 Seiten, 17,90 Euro

ISBN: 978-3955652180


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