am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Jan Gerber / Philipp Graf / Anna Pollmann (Hrsg.): Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein. Europa nach dem Holocaust

Weitgehend einig ist sich die Holocaustforschung darüber, dass in den 1980-er Jahre ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat, der die Bedeutung des Holocaust und das Gedenken an die Ereignisse in Deutschland ebenso wie in zahlreichen europäischen Ländern und den USA rasant gesteigert und verfestigt hat. Denn die Erinnerung an den Holocaust unterlag und unterliegt Konjunkturen, die von politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren bedingt und beeinflusst wird. Die „Bedingungen historischer Erkenntnis“ (S. 11) wandeln sich also stetig. Herausforderungen für die zukünftige Erinnerungskultur an den Holocaust werden sicherlich, wie auch die Herausgeber:innen des vorliegenden Sammelbandes zu „Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein. Europa nach dem Holocaust“ eingangs feststellen, die zunehmende Heterogenisierung von Erfahrungs- und Geschichtsräumen sowie postkoloniale Ansätze sein, die den Holocaust mitunter als Folge (und Steigerung) der europäischen Kolonialpolitik und als einen von vielen Genoziden und Massenverbrechen begreifen. 

Der vorliegenden Band möchte allerdings nicht die gegenwärtigen oder zukünftigen Entwicklungen in den Blick nehmen, sondern vielmehr das „Verhältnis von Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein und seine Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Holocaust im Europa der ersten Nachkriegsjahrzehnte, der Hochphase des Kalten Krieges“ (S. 16), beleuchten. Er nimmt dabei in den deutsch- und englischsprachigen Beträgen sehr unterschiedliche Erinnerungsstandpunkte – mit einem besonderen Augenmerk auf die späten 1940-er, 1950-er und 1960-er Jahre – sowie zahlreiche literarische und mediale Beispiele in den Blick. Unter den drei Schwerpunkten „Vergangenheit: Bürgerkriege – Nationalitätenkonflikte – Kollaboration“, „Gegenwart: Blockkonflikt – Antikolonialismus – Wiederaufbau“ und „Zukunft: Neuanfang – Utopismus – Neue Linke“ werden so verschiedene Faktoren thematisiert, die den Blick auf den Holocaust beeinflussten. 

Einen zentralen Grund für das Ausbleiben einer umfassenden Auseinandersetzung mit dem Holocaust bis in die späten 1970-er Jahre sehen die Herausgeber:innen im Kalten Krieg und der damit verbundenen atomaren Gefahr. „Der Ost-West-Konflikt erwies sich als so übermächtig, dass die Erinnerung an den Holocaust schon wieder neutralisiert war, bevor das Ereignis überhaupt einen Namen hatte“ (S. 13). Die Ahnung über die Ausmaße und die Bedeutung der Judenvernichtung, die während der Jahre des Exils und der Besatzung entstanden seien, seien in dieser Zeit wieder verschwunden. Dies mache die eigentümliche Mischung aus Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein in dieser Phase aus. „Die Erinnerung an die Vernichtung der europäischen Juden passte weder zum Geschichtsoptimismus dieser Epoche, noch ließ die mit dem Atomkrieg befürchtete Auslöschung der Menschheit ein Interesse an der nur wenige Jahre zurückliegenden jüdischen Katastrophe entstehen“ (S. 13). Mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 und dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main von 1963 bis 1965 seien wichtige Wegmarken für die Wahrnehmung der Dimension des Holocaust gesetzt worden, so dass in den 1970-er Jahren und nach der Ausstrahlung der amerikanischen Serie „Holocaust“ im deutschen Fernsehen 1978/79 dann die uns „heute gleichsam selbstverständlich erscheinende Gedächtniszeit“ (S. 16) begann.

Der erste Teil des Bandes widmet sich in sechs Beiträgen Nationalitätskonflikten und Kollaboration in unterschiedlichen europäischen Ländern. Der zweite Abschnitt fokussiert in ebenfalls sechs Aufsätzen den Blockkonflikt zwischen West- und Ostdeutschland sowie die Verzahnungen zwischen Dekolonialisierung und den Erinnerungen an die Verbrechen des Holocaust in den ehemaligen Kolonialstaaten. Er nimmt außerdem den jeweiligen politischen Kontext in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten in den Blick. Eine ganze Reihe mittel- und osteuropäischer Staaten habe der Erinnerung an den Holocaust und der Erforschung der einheimischen Kollaboration während des Zweiten Weltkrieges zunehmend Kautelen auferlegt, so der Befund. Der dritte Teil umfasst sieben Beiträge, die sich etwa mit der westlichen und israelischen Neuen Linken und ihrem Geschichtsbild sowie staatsförmigen Utopien in sozialdemokratischen und realsozialistischen Weltordnungen auseinandersetzen. So soll der Blick „auf jene Konstellationen freigelegt werden, die bis in die Gegenwart die Haltung einzelner europäischer Länder zu ihrer eigenen Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus bestimmen“ (S. 21). 

Spannend und lohnend sind der Band und die einzelnen Beiträge nicht nur, weil sie die unterschiedlichen Bedingungen, Einschränkungen und Ausdrucksformen von Erinnerungen an den Holocaust in Europa aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und so ein sehr umfassendes, differenziertes und vielschichtiges Bild zusammensetzten. Sie nehmen zudem auch zahlreiche Autor:innen und Werke (unter anderem der Holocaustliteratur) und deren Einbindung in und ihren Einfluss auf den jeweiligen Diskurs in den Blick. 

Susanne Zepp legt etwa dar, dass die Art und Weise, in der die spanischsprachige Ausgabe von Jorge Semprúns preisgekröntem Debütroman „Die große Reise“ (1963) in Spanien zunächst ignoriert wurde, „sinnbildlich für die Gleichgültigkeit und den Widerwillen“ (S. 87), den Spanien Semprún und seinem Werk bis zum Ende der Franco-Diktatur entgegenbrachte. (Semprún trat 1941 der französischen kommunistischen Résistance-Organisation bei und wurde 1942 Mitglied der Kommunistischen Partei Spaniens, was er bis zu seinem Ausschluss 1964 blieb.) Das Regime habe sein eigenes Narrativ verfolgt und sich als „katholische Verteidigungsmacht“ (S. 88) und antikommunistisches Bollwerk stilisiert.

Philipp Graf beleuchtet in seinem Aufsatz das literarische Werk von Anna Seghers und ihre „vermeidende Beschäftigung mit ihrer jüdischen Herkunft“ (S. 180) besonders in den 1950er Jahren – und das, „obwohl sie es als Auftrag verstand, sich intensiv mit dem ‚Dritten Reich‘ und seiner politischen wie geistigen Hinterlassenschaft zu befassen“ (S. 181). Den Holocaust habe sie allerdings nur stark verfremdet und in Andeutungen thematisiert. Die Gründe dafür sieht er zum einen in der grundsätzlichen Haltung der DDR zum Holocaust begründet, zum anderen darin, „dass Seghers sich mit den Texten ganz in den Dienst der Anforderungen ihrer Zeit stellte“ (S. 183). Der Holocaust habe eben gedächtnisgeschichtlich in der frühen DDR nur einen peripheren Platz gehabt. Seghers habe vor allem Linientreue unter Beweis stellen wollen und habe daher auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus vermieden. Eine explizite Auseinandersetzung mit dem Holocaust und der stalinistischen Ära hätte wohl bedeutet, „dass sie schutzlos vor den Trümmern zweier Welten gestanden hätte – den Ruinen der abgelegt geglaubten jüdischen Zugehörigkeit wie denen des dafür angenommenen marxistischen Weltbilds“ (S. 199). 

Den Epilog bildet ein Wiederabdruck von Moishe Postones Text „Der Holocaust und der Verlauf des 20. Jahrhunderts“. Darin unternimmt er den Versuch, zwei „im allgemeinen als völlig unterschiedlich geltenden Diskurswelten zusammenzuführen“ (S. 481) – auf der einen Seite den Holocaust als Ereignis von einschneidender historischer Bedeutung zu betrachten, also als Zivilisationsbruch, und auf der anderen Seite eine Marginalisierung des Holocaust in den Blick zu nehmen, wie sie etwa im allgemeinen historischen Diskurs Ende der 1940-er und in den 1950-er Jahren stattgefunden habe. Abwehr oder Vermeidung seien Gründe für diese, aber auch universalistische Positionen (besonders im linken und kommunistischen Diskurs), die vermeiden wollten, partikularistisch der Verfolgung und der Ermordung der Juden besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Die grundlegende Frage sei, so Postone, ob sich der Holocaust in Beziehung zu den grundlegenden historischen Prozessen, die das gesellschaftliche Leben im 20. Jahrhundert geprägt und verändert hätten, setzen ließe, oder ob man ihn „als ein Ereignis betrachten muss, das für die Opfer (und vielleicht auch für die Täter) von großer Tragweite war, das von allgemeiner moralischer Bedeutung ist, auf der Ebene der tiefergehenden Struktur jedoch nur eine geringe Rolle spielt“ (S. 485). Sein Ansatz, das Verhältnis zwischen dem Holocaust und seinen Folgen im Hinblick auf die übergreifenden Geschichtsmuster des 20. Jahrhunderts zu untersuchen, betrachtet zentrale Elemente des modernen Antisemitismus, nämlich „die Vorstellung von den Juden als welthistorischer Bedrohung des Lebens“ (S. 493), die den Juden eine abstrakte, schwer zu fassende und universale Macht zuschreibt, als identisch mit den Wertdimensionen der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse. „Die Juden wurden zu Personifizierungen der ungreifbaren, destruktiven und außerordentlich mächtigen internationalen Kapitalherrschaft“ (S. 502). Die Vernichtung der Juden sei somit auch assoziiert worden mit der Überwindung des Kapitalismus. Die besondere Macht und Gefährlichkeit des modernen Antisemitismus liege darin, dass er eine umfassende Weltanschauung liefere, die „bestimmte Formen antikapitalistischer Unzufriedenheit“ (S. 503) erkläre und diesen politischen Ausdruck verleihe, die den Kapitalismus als solchen aber unbeschadet ließe. Die Vernichtungslager seien in der logischen Konsequenz „groteske antikapitalistische Negation“ (S. 504, Hervorhebung im Original) einer Fabrik als einem Ort, an dem Wert produziert wird. Im Wirtschaftswachstum der fünfziger und sechziger Jahre sei der Nationalsozialismus dann als antimoderne Regression und deutscher Irrweg erschienen. Der globale neoliberale Kapitalismus der siebziger Jahre habe die vorherige Verdrängung des Holocaust und Strukturen der Abwehr sowie das Ziel der „Normalität um jeden Preis“ (S. 509) aufgelöst zugunsten einer indirekten oder direkten Identifizierung mit den Opfern sowohl bei den Linken als auch bei den neuen Konservativen, bei denen es in der Folge zudem zu einer „Darstellung Deutschlands und der Deutschen als Opfer“ (S. 511) gekommen sei. Solche Prozesse psychischer Verkehrung hätten die Tendenz, „antisemitische Bilder von jüdischer Macht und zerstörerischen Absichten wiederaufleben zu lassen“ (S. 511), so Postone. Die Zukunftsorientierung Deutschlands habe zugleich den Charakter einer Flucht vor der Vergangenheit gehabt, von der sie jedoch in Wahrheit getrieben worden sei. Die Herrschaft der Vergangenheit über die Gegenwart führe zur zwanghaften Flucht nach vorne und/oder der zwanghaften Neuinszenierung der Vergangenheit. Etwas ganz anderes sei dagegen eine Zukunftsorientierung, die auf „Aneignung der Vergangenheit“ (S. 513) basiere. 

Um zu einem Gesamturteil zu kommen: Der große Mehrwert des Bandes besteht drin, dass er aus verschiedenen Perspektiven ganz unterschiedliche Themenfelder und Positionen innerhalb des europäischen Erinnerungsdiskurses zum Holocaust seit Kriegsende aufgreift, einordnet und diskutiert. So ergibt sich ein multiperspektivischer und differenzierter Überblick über die Gedächtnisgeschichte des Holocaust.

Charlotte Kitzinger, Arbeitsstelle Holocaustliteratur, JLU Gießen

Jan Gerber, Philipp Graf, Anna Pollmann (Hrsg.): Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein. Europa nach dem Holocaust.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2022.
535 Seiten, 55,00 Euro
ISBN 978-3-525-31736-5


Drucken
TOP
Arbeitsstelle Holocaustliteratur
Otto-Behaghel-Str. 10 B / 1 · D-35394 Gießen · Deutschland
arbeitsstelle.holocaustliteratur@germanistik.uni-giessen.de
News

Diese Webseite verwendet Cookies
Wir verwenden Cookies, um Inhalte und Funktionen personalisieren zu können. Bitte treffen Sie Ihre Auswahl, um den Funktions-Umfang unserer Cookie-Technik zu bestimmen. Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.