Schauspielerin Lilli Schwethelm machte mit der aus Nieder-Ohmen stammenden Dichterin Hilda Stern-Cohen bekannt
LICH (ts). Proppenvoll war das Licher Café Sahne am Freitagabend, als die Schauspielerin Lilli Schwethelm mit einer Dichterin bekannt machte, von der die meisten Zuhörer noch nie etwas gehört, noch nie eine Zeile gelesen hatten. Und doch zeigte der Abend unter dem Motto "Genagelt ist meine Zunge", dass Hilda Stern-Cohen, 1924 in Nieder-Ohmen geboren und 1997 in den USA gestorben, über eine außerordentliche literarische Begabung verfügte. Im Zentrum ihrer hinterlassenen Schriften stehen die grauenhaften Erfahrungen des Holocaust.
"Hilda Stern hat sich schon in ihrer Kindheit als Schriftstellerin gesehen. Sie schrieb ihre Gedichte ohne Aussicht, sie jemals zu veröffentlichen. Sie schrieb also nicht, weil sie Dichterin sein wollte, sondern weil sie eine war", sagte Lilli Schwethelm zu Beginn des Rezitationsabends, der im Rahmen der Licher Veranstaltungsreihe zum 9. November 1938 stattfand.
Das jüdische Mädchen, das schon mit acht Jahren dichtete, wurde 1941 mit ihrer Familie ins Ghetto Lodz deportiert, wo ihre Eltern und Großeltern an der "galoppierenden Schwindsucht" starben. 1944 kam sie nach Auschwitz, doch sie überlebte auch das Vernichtungslager. Nach ihrer Befreiung wartete sie in Österreich in einem "Camp für displaced persons" auf ihre Übersiedlung nach Amerika, und in diesem Camp verfasste sie die meisten der jetzt veröffentlichten Texte ("Genagelt ist meine Zunge", Lyrik und Prosa einer Holocaust-Überlebenden, in Zusammenarbeit mit Werner Cohen herausgegeben von Erwin Leibfried, Sascha Feuchert und William Gilcher, Memento 2, 168 Seiten, 15 Euro).
Ihre spätere Familie in Amerika hatte keine Ahnung, dass sie als 21-jährige ihre Erinnerungen an die Schrecken im Ghetto zu Papier gebracht hatte. Erst nach ihrem Tode entdeckte ihr Mann Werner Cohen sieben, mit Bleistift beschriebene Schulhefte in der untersten Schublade. Seine Frau Hilda, so Cohen im Vorwort, habe ein unbeirrbares Gottvertrauen und ein stolzes Selbstvertrauen als Jüdin gehabt; und zwar selbst in der Hölle der Lager: "Dieses Buch bringt eine Dichterin zu Gehör, deren Worte trotz aller erlittener Pein lebensbejahend und erbauend wirken."
Unterstützt vom Gitarristen Georg Crostewitz hauchte Lilli Schwethelm dieser Lyrik in eindringlicher, einfühlsamer Darbietung Leben ein, und das Publikum lauschte so gebannt, dass man eine Nadel hätte fallen hören. So klang die seelische Zerrissenheit der jungen Dichterin an, deren Muttersprache ja auch die Sprache der Henker war: "Genagelt ist meine Zunge/ an eine Sprache, die mich verflucht,/ hineingehämmert/ in meine Ohren/ mit den Tönen der Liebe,/ und des fressenden Hasses." Beklemmend auch ihr langes Gedicht über den Zug, der sie mit Hunderten anderen von Deportierten nach Auschwitz brachte. Eine kämpferische Hilda Stern spricht aus dem "Manifest an das Internationale Rote Kreuz", in dem sich die junge Frau über die unhaltbaren Zustände im "Camp for Displaced Persons" (Chiemsee Lager III) beklagt. Mit dem Gedicht "Heimat" ("Überall kommen Nächte/ täglich gleich zu mir herab,/ überall ist eine Sehnsucht,/ überall find´ ich ein Grab") endete der lyrische Abend, für den das tief beeindruckte Publikum den beiden Künstlern mit herzlichem Applaus dankte.