am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

„Völlige Umkehrung von Realitäten und Verantwortung“ – Dr. Jan Kreutz stellte auf Einladung der AHL seine biografische Studie zu NS-Täter Erich von dem Bach-Zelewski vor

23.12.2025

2. Dezember 2025

Foto: Jennifer Ehrhardt
Foto: Jennifer Ehrhardt

Anlässlich des 80. Jahrestags des Beginns der Nürnberger Prozesse stellte der Historiker Dr. Jan Kreutz am 2. Dezember im Oberseminar zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der JLU Gießen seine jüngst im Wallstein Verlag erschienene Dissertation „Erich von dem Bach-Zelewski. Karrieren der Gewalt zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik“ vor. Darin zeichnet Kreutz den Werdegang des SS-Führers Erich von dem Bach-Zelewski nach und legt auf der Grundlage einer akribischen Quellenarbeit dessen fortwährende Inszenierungsstrategien offen, die in einer lebenslangen Selbststilisierung zur Aufwertung der eigenen Rolle bestanden. 

Zum Vortrag eingeladen hatte die AHL in Kooperation mit dem Gießener Institut für Zeitgeschichte, der Fachjournalistik Geschichte sowie der Osteuropäischen Geschichte im Akzentbereich „Holocaust- und Lagerliteratur“ der JLU Gießen, in Zusammenarbeit mit der Lagergemeinschaft Auschwitz.

Bach-Zelewski stehe exemplarisch für einen Typus nationalsozialistischer Funktionäre, die ihre Machtposition durch brutales Handeln festigten, betonte Kreutz in seinem Vortrag. Zugleich weise seine Biografie Besonderheiten auf: Bereits im Alter von 15 Jahren meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg, engagierte sich in der völkischen Bewegung der Weimarer Republik und beteiligte sich bereits zu Beginn der NS-Herrschaft an gewaltsamen Aktionen gegen politische Gegner. Innerhalb der SS gelang ihm ein rascher Aufstieg, insbesondere ab 1941, als er als „Höherer Polizeiführer Russland-Mitte“ und „Bevollmächtigter des Reichsführers-SS für Bandenbekämpfung“ „eine ganz entscheidende Rolle für die Radikalisierung der Ermordung der sowjetischen Juden“ spielte, wie Kreutz schilderte. Dabei sei er kein „reiner Schreibtischtäter“ gewesen, sondern habe die von ihm organisierten Mordaktionen häufig persönlich begleitet und sich teilweise selbst an den Tötungen beteiligt. Diese Gewaltausübung diente ihm als Mittel, um sich im Machtgefüge der SS als besonders „effizienter und kompromissloser Manager der Gewalt“ zu profilieren.

„Nach dem Zusammenbruch des NS-Staates brauchte er dann nur wenige Monate, um sich komplett neu zu erfinden“, erklärte der Historiker. Statt als Angeklagter trat er in den Nürnberger Prozessen als Belastungszeuge der Alliierten auf und präsentierte sich als kooperationsbereiter Informant, der bereitwillig Informationen preisgab. In einer besonders drastischen Form der Selbststilisierung inszenierte er sich sogar als vermeintlicher Helfer und Beschützer der osteuropäischen Jüdinnen und Juden – eine „völlige Umkehrung von Realitäten und Verantwortung“, wie Kreutz hervorhob. Zentrales Element dieser Umdeutung war auch Bach-Zelewskis Rückgriff auf das Konzept der „Kollektivschuld“, mit dem er versuchte, seine individuelle Verantwortung zu relativieren: Wenn „alle“ schuldig seien, erscheine er selbst nur als Teil eines größeren Ganzen, erläuterte Kreutz. Tatsächlich wurde der NS-Verbrecher bis zu seinem Tod im Jahr 1972 für seine maßgebliche Beteiligung am Holocaust nie juristisch zur Rechenschaft gezogen.

Kreutz zeigte somit anhand einer detaillierten Auswertung von (zum Teil erstmals erschlossenen) Tagebüchern, Briefen und anderen Ego-Dokumenten, wie Bach-Zelewski die von ihm erlebte und ausgeübte Gewalt schriftlich verarbeitete und dabei immer wieder neue Narrative über sich selbst entwarf. Zu unterscheiden seien daher, so Kreutz, die physische Person und die verschiedenen von Bach-Zelewski konstruierten „Personae“, die jeweils unterschiedliche Identitätsentwürfe verkörpern. Diese gingen häufig sogar mit Namensänderungen einher. Trotz dieser Wandlungsfähigkeit blieben zwei Konstanten in Bach-Zelewskis Lebenslauf unverkennbar: eine ausgeprägte Gewaltbereitschaft und ein konsequentes Karrierestreben. „Beides gehört zusammen“, erklärte Kreutz, „weil Gewalt für ihn der Weg zur Karriere war.“

Im Anschluss an den Vortrag bot sich den Zuhörenden die Gelegenheit zu einer vertiefenden Diskussion. Jennifer Ehrhardt, die als Moderatorin durch den Abend führte, eröffnete die Gesprächsrunde mit der Frage, weshalb Bach-Zelewski trotz seiner zentralen Rolle im nationalsozialistischen Gewaltapparat vergleichsweise wenig Beachtung gefunden habe. Die Gründe hierfür seien unter anderem in der bislang unzureichenden Forschung zu suchen, ergänzte Kreutz; viele der einschlägigen Dokumente seien vorher noch nicht systematisch ausgewertet worden. Ziel seiner Arbeit sei es daher gewesen, die Selbstdarstellungen des Täters kritisch zu analysieren, ohne sich einerseits in dessen Perspektive „hineinzufühlen“ oder andererseits in „komplette Antipathie“ zu verfallen. Nur so lasse sich eine analytisch distanzierte Untersuchung gewährleisten.

Unser herzlicher Dank gilt Dr. Jan Kreutz für den anregenden Vortrag sowie unseren Kooperationspartnern, die diese Veranstaltung ermöglicht haben.

Eine Besprechung der Veranstaltung von Heidrun Helwig ist im Gießener Anzeiger erschienen und kann hier online gelesen werden.


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