am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Bericht zur Buchvorstellung des Lagertagebuchs von Isy Aronowitz mit Herausgeber Prof. Christoph Heyl in Frankfurt

06.12.2025
Prof. Dr. Christoph Heyl stellte in Frankfurt das Lagertagebuch des Isy Aronowitz vor / Foto: Jennifer Ehrhardt
Prof. Dr. Christoph Heyl stellte in Frankfurt das Lagertagebuch des Isy Aronowitz vor / Foto: Jennifer Ehrhardt

„Serendipity“ – so bezeichnet der englische Sprachgebrauch die zufällige Entdeckung von etwas, das man eigentlich nicht gesucht hat, das sich jedoch als wertvoll erweist. Für Christoph Heyl, Professor für Britische Literatur und Kultur an der Universität Duisburg-Essen, begann die Geschichte der Edition des Lagertagebuchs von Isaac Aronowitz mit einem solchen Zufallsfund: Bei einer Veranstaltung der Deutsch-Britischen Gesellschaft hörte er den britischen Autor Richard Aronowitz-Mercer aus dessen Roman „Five Amber Beads“ (2006) lesen, der unter anderem das Überdauern von Objekten und Quellen aus der Zeit des Holocaust thematisiert. Darin finden sich Passagen, die wie Auszüge aus dem Tagebuch eines Zwangsarbeiters gestaltet sind. Erst im anschließenden Gespräch erfuhr Heyl, dass es sich dabei nicht um literarische Fiktion handelte, sondern um die authentischen Tagebuchaufzeichnungen von Aronowitz-Mercers Großonkel „Isy“. Das zwischen Dezember 1940 und August 1943 entstandene und bis heute im Familienbesitz in England aufbewahrte Manuskript hatte somit bereits lange vor seiner deutschen Edition ein eigenes literarisches Nachleben. Mit der im Metropol Verlag erschienenen Ausgabe liegt nun eine seiten-, zeilen- und wortgetreue Transkription vor, die diesen Text erstmals einem deutschsprachigen Publikum zugänglich macht. Vorgestellt wurde sie unter anderem am 26. November von Herausgeber Christoph Heyl am Frankfurter Fritz Bauer Institut im Rahmen einer Kooperationsveranstaltung mit der AHL.

Isaac „Isy“ Aronowitz, 1913 in Wuppertal geboren, wurde 1938 im Zuge der sogenannten Polenaktion als „Ostjude“ zunächst in die Grenzstadt Neu-Bentschen und später in das Getto Lodz/Litzmannstadt deportiert. Die im Tagebuch dokumentierte Zeit verbrachte er dann in zwei Zwangsarbeitsstätten: von Dezember 1940 bis April 1942 in Sternberg/Neumark nahe Frankfurt an der Oder, einem der Lager für den Bau der „Reichsautobahn“, und anschließend, von April 1942 bis August 1943, in den Rüstungswerken Eberswalde. Das im Verborgenen verfasste und über 300 Seiten umfassende Manuskript bricht ab, bevor Aronowitz nach Auschwitz verschleppt wurde. „Es wird nicht eher hell, bis es ganz dunkel gewesen ist“ (S. 301 f.), lauten seine letzten überlieferten Zeilen.

Vor diesem biografischen Hintergrund verdeutlichte Heyl in seinem Vortrag die außergewöhnliche Bedeutung dieser Quelle. Zwar seien viele jüdische Zwangsarbeiter beim Autobahnbau eingesetzt worden, doch „substanzielle Selbstzeugnisse“, die zudem nicht rückblickend, sondern unmittelbar aus dem Erleben heraus berichten, seien bislang kaum bekannt. Gerade deshalb sei das von „Isy“ Aronowitz über mehr als 30 Monate hinweg geführte Tagebuch „wie keine andere Quelle geeignet, um die Rolle des Autobahnbaus im nationalsozialistischen Staat sichtbar zu machen“ und zum „Aufbau einer adäquaten Erinnerungskultur in Bezug auf die Autobahnen“ beizutragen. Denn während etwa die Eisenbahn heute fest mit den nationalsozialistischen Vernichtungsmechanismen verbunden werde, so Heyl, fehle ein vergleichbares Bewusstsein für die Autobahn, obwohl auch sie Teil der Terrorinfrastruktur war.

Das Tagebuch veranschauliche, wie die Nationalsozialisten bereits ab 1940 jene Strategie praktizierten, die 1942 in der Wannsee-Konferenz formal festgehalten wurde: die „Vernichtung durch Arbeit“ beim Straßenbau im Osten als Teil dessen, was sie die „Endlösung“ nannten. So beschreibt auch Aronowitz das Lager bei Sternberg etwa als einen Ort „befremdlicher Dualität“, an dem Elemente scheinbarer Normalität mit dem allgegenwärtigen Hunger, der Gewalt und dem Tod kollidieren. Er erzählt von seltenen, selbst organisierten Abendunterhaltungen der Insassen, die für einen flüchtigen Moment die extreme Unterdrückung im Lager minderten – und zugleich, in bedrückender Anschaulichkeit, davon, wie Menschen beim Bau der Autobahn ihr Leben verloren.

Aronowitz gelang es, das Manuskript aus den Lagern zu schmuggeln. Freunde der Familie in Wuppertal-Elberfeld sollen es aufbewahrt haben, bis es nach Kriegsende in den Besitz von Doris Mercer, der Nichte des Verfassers und Mutter von Richard Aronowitz-Mercer, nach England gelangte; sie war ihrerzeit mit dem Kindertransport dorthin geflohen. Isy Aronowitz selbst wurde nach Sternberg und Eberswalde in weitere Lager verschleppt, überlebte jedoch, weil ihm auf einem der berüchtigten Todesmärsche die Flucht gelang. 1947 emigrierte er nach Australien und arbeitete dort als Lehrer. Er starb 1989 in Melbourne.

In der anschließenden Diskussion, moderiert von Dr. Markus Roth (Fritz Bauer Institut), Mitbegründer der gemeinsamen Schriftenreihe, standen schließlich der Überlieferungszustand des Manuskripts, die Lebensbedingungen in den Lagern sowie das weitere Schicksal der Familie Aronowitz im Zentrum. Auch das pädagogische Potenzial wurde diskutiert: Der Text eigne sich sowohl für den Geschichtsunterricht als auch für fächerübergreifende Formate; in Kombination mit Aronowitz-Mercers Roman, der bislang nicht auf Deutsch vorliegt, sogar für den bilingualen Unterricht. Heyl fasste abschließend zusammen, was aus Vortrag und Diskussion deutlich geworden war: Das Tagebuch von Isy Aronowitz sei „eine Stimme aus unserer Vergangenheit, die es unbedingt verdient, Gehör zu finden – gerade und insbesondere in unserer Gegenwart.“


Ein Videomitschnitt der Buchpremiere vom 29. Oktober im Rahmen der Vortragsreihe „DIE KLEINE FORM“ an der Universität Duisburg-Essen steht hier online zur Verfügung.


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