am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Stephen Nasser und Sherry Rosenthal: Die Stimme meines Bruders. Wie ein ungarischer Junge den Holocaust überlebte: eine wahre Geschichte

     

Mit dem Buch "Die Stimme meines Bruders" liegt seit 2011 der bewegende Zeitzeugenbericht des ungarischen Holocaustüberlebenden Stephen Nasser nun auch in deutscher Übersetzung vor. Er enthält die unfassbaren Schilderungen des gebürtigen Ungarn, dessen unbeschwerte Kindheit mit gerade einmal 13 Jahren schlagartig endete, als er, nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Ungarn im Mai 1944, nach Auschwitz deportiert wird.

Bei der Ankunft in Auschwitz blickt er seiner Mutter zum letzten Mal in die Augen (sein Vater starb ein Jahr zuvor an einer Lebererkrankung) und muss auch qualvoll mit ansehen, wie sein Cousin, noch ein Baby, von einem Wachmann mit dem Kopf voraus gegen das Rad eines Viehwaggons geschmettert wird. Solche schrecklichen Bilder wird "Pista", wie er von seiner Familie genannt wurde, mit Ankunft im Lager von nun an tagtäglich miterleben und einzig die Tatsache, dass sein Bruder Andris an seiner Seite ist, lässt ihn einen enormen Überlebenswillen entwickeln. Zusammen kommen die Brüder in das KZ-Außenlager Mühldorf und es gelingt ihnen, die schweren Arbeiten, die sie völlig erschöpft verrichten müssen, die Demütigungen und die Lagerepidemien zu überstehen, indem sie alles, was sie haben, teilen und sich gegenseitig immer wieder Mut zusprechen. Kurz vor Ende des Krieges reichen jedoch Andris Kräfte nicht mehr aus und er stirbt. Eine "Waffe" im Kampf des Überlebens besteht für Nasser von nun an in seinem Tagebuch, das er aus Zementsäcken herstellt und in welchem er seine Gedanken und Erlebnisse festhält; immer mit dem Ziel vor Augen, die Aufzeichnungen eines Tages zu veröffentlichen, "damit die Welt erfährt, was diese Nazis wirklich im Schilde führten" (S. 146). (Den Bleistift dafür erhielt er von einem Wehrmachtsangehörigen, für den er Schnitzarbeiten anfertigte).

Ende April 1945 erreichten dann die Alliierten Mühldorf und nach langer Odyssee wurden die Häftlinge des KZs endlich befreit. Zwar verlor Nasser sein Tagebuch bei der Befreiung, doch kurze Zeit danach schrieb er seine Erlebnisse erneut auf.

Es dauerte jedoch 50 Jahre, bis Nasser seinen Erinnerungsbericht veröffentlichte, denn so konnte er seinem Onkel nicht die Wahrheit über das Schicksal seines Sohnes zumuten, jenem Cousin Nassers, dessen Leben von dem Aufseher so brutal und grausam ausgelöscht wurde. Erst nach dem Tod seines Onkels konnte er sein Schweigen brechen und die Erinnerungen der Öffentlichkeit zugänglich machen.

Seine (Über-)Lebensgeschichte hat Nasser sehr wirkungsvoll, in einer eindrücklichen, klaren Sprache verfasst, und er offenbart dadurch dem Leser eine authentische Perspektive des jungen Heranwachsenden. Besonders ergreifend wirken zudem die Verwendung des Präsens, das den Schilderungen eine gewisse Unmittelbarkeit verleiht, sowie die vielen Dialoge, die er mit seinem Bruder führt und die zeigen, wie bedeutend diese Bruderliebe für seinen Überlebenskampf im Lager war. Neben zahlreichen Fotos von Nasser und seiner Familie aus der Zeit vor und nach dem Krieg enthält das Erinnerungsbuch auch eine Übersicht über Nassers Leben nach 1945 sowie ein informatives Nachwort des Übersetzers Heinz Bickert.

Stephen Nasser lebt heute in den USA und kämpft als einer der nur noch wenigen lebenden Zeitzeugen dafür, dass die Geschichte niemals vergessen oder umgedeutet wird. Mahnend schreibt er in seinem Vorwort: "Wie oft es auch schon gesagt wurde, diejenigen, welche die Geschichte vergessen, sind dazu verdammt, sie zu wiederholen. Begeht keine Fehler: Der Holocaust ist Geschichte. Ich weiß es, ich war dabei." (S.5).

 

 

 

 

 


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