am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Sascha Feuchert: Oskar Rosenfeld und Oskar Singer

Newsletter des Fritz Bauer Instituts, Nr. 28 (2006), S. 69f.

Schriftsteller des Gettos Sascha Feuchert. Oskar Rosenfeld und Oskar Singer. Zwei Autoren des Lodzer Gettos. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag, 2004, 477 S., € 74,50 Vorzustellen ist eine literaturhistorische Arbeit im besten Sinne, die versucht, mit literaturwissenschaftlichen Mitteln zur Erkenntnis über den Holocaust beizutragen. Ausgehend von einer Analyse der Bedeutung und des Bedeutungswandels der Metapher "Holocaust" im deutschen Sprachraum – unter "Holocaust" werden alle Terror- und Vernichtungsmaßnahmen der Nazis gegen alle Opfergruppen subsummiert -, stellt der Autor im Anschluss an James E. Young eine Definition von Holocaustliteratur zur Diskussion, die jene Texte, die die Gattung konstituieren, als je subjektabhängige Interpretationen des Geschehens durch die Verfasser versteht, die auch für den Leser entscheidende Folgen haben: Mit der Gestaltung ihrer Texte beschreiben die Autoren die Ereignisse nicht nur, sie schreiben damit auch die Sichtweise der Leser in gewissem Maße vor. Dieses Verständnis von Texten als Interpretationen bestimmt das weitere Vorgehen des Verfassers. Er fragt nach den spezifischen Voraussetzungen, die die jeweiligen Interpretationen, im konkreten Fall Oskar Rosenfelds und Oskar Singers, beeinflussen. Im Hauptteil wird sodann versucht, die Texte, die Rosenfeld und Singer im Getto Lodz über das Getto verfassten, in mehrerer Hinsicht zu kontextualisieren: Es wird nach Konstituenten für den so unterschiedlichen Blick der beiden auf die Ereignisse in Lodz gesucht. Feuchert präsentiert Oskar Rosenfeld als einen Schriftsteller – analysiert wird auch ein Roman, eine Novelle und eine Novellensammlung Rosenfelds – und Journalist, der bereits früh durch den Zionismus geprägt wurde. Die Begegnung mit Theodor Herzl gab dem Autor auch sein lebenslanges Thema mit auf den Weg: die Suche nach der Bestimmung einer dezidiert jüdischen Kunst, die er in der Folge wesentlich als Feuilleton-Redakteur der zionistischen Blätter Wiener Morgenzeitung und Neue Welt betrieb. Der Autor kommt bei der Untersuchung der von Rosenfeld verfassten Beiträge für die Getto-Chronik und -Enzyklopädie zu dem Ergebnis, dass diese Texte sich hauptsächlich in der Themenauswahl von denen Singers unterscheiden. Darüber hinaus fertigte Rosenfeld umfangreiche privatere Notizen an, die als Komplementärtexte zu den Chronik- und Enzyklopädie-Beiträgen zu lesen sind und diese nachhaltig erhellen. Daneben werden diese privaten Texte vor allem als Notizen des Autors für eine spätere künstlerische Aufarbeitung der Getto-Erfahrung gedacht. Feuchert zeigt, dass Rosenfeld im Getto die Frage ins Zentrum seiner Überlegungen rückte, wie eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Getto-Wirklichkeit aussehen könnte. Er setzte damit seine Suche nach der Bestimmung einer jüdischen Kunst fort. Der studierte Jurist Oskar Singer wurde 1933 Journalist. In Prag arbeitete er zunächst als Redakteur für den Prager Montag. Nach der Besetzung der Tschechoslowakei wurde er Chefredakteur des Jüdischen Nachrichtendienstes, des Organs der Jüdischen Kultusgemeinde und der Zionistischen Organisation, einer Gründung Adolf Eichmanns. Unter dessen Zensur musste er über zwei Jahre arbeiten. Als Chefredakteur der einzigen verbliebenen jüdischen Zeitung war er zum Funktionsträger der jüdischen Gemeinde geworden und zu einem ihrer Sprecher. Auch im Getto Lodz blieb er Sprachrohr des Geknechteten, ein Mensch, der Hilfsaktionen zum Laufen brachte, weil er das Überleben sichern wollte, und ein Journalist, der wieder Kompromisse eingehen musste. Dort arbeitete er erstmals mit Oskar Rosenfeld zusammen, dessen Selbstverständnis als Schriftsteller und radikaler Zionist eine andere Sichtweise auf das Geschehen im Getto präfigurierte. Und doch arbeiteten beide an gemeinsamen Projekten wie der Lodzer Getto-Chronik oder der Getto-Enzyklopädie. In seinen privaten Texten deutet Singer des Öfteren die Möglichkeit einer fiktionalisierten Bewältigung der Getto-Erfahrung an. Doch schloss er für sich eine solche Fiktionalisierung des Geschehens aus. Sein Zugang war ein dezidiert journalistischer, der wesentlich durch seine Prager Erfahrungen geprägt war. Die unterschiedlichen Strategien Singers und Rosenfelds ermöglichen unterschiedliche Interpretationen der Getto-Erfahrung. Ihre Texte handeln so nicht nur von den sie umgebenden schrecklichen Ereignissen und den möglichen Reaktionen auf diese. Es dreht sich dabei auch und gerade um die Bedingung der Möglichkeit verschiedener Textsorten früher Holocaustliteratur. Feuchert zeigt, dass für die Texte der Gattung, die noch während der Ereignisse entstanden, ein autorzentriertes und kontextualisiertes Vorgehen notwendig ist. Nur so schließen sich die Interpretationsleistungen der einzelnen Autoren vollständig auf, nur so lassen sie ihre Motivationen, sich für diese oder jene Art der textlichen Bewältigung und Überlieferung der Ereignisse zu entscheiden, näher klären. Und nur so ist es möglich, dem Genre Holocaustliteratur eine historische Tiefe zu geben. Sascha Feuchert hat eine hervorragende und für die weitere Forschung innovative Arbeit vorgelegt. Als Nebenprodukt gewissermaßen ist es dem Verfasser gelungen, zwei wichtige deutschsprachige jüdische Autoren in Erinnerung zu rufen. Und diese Bemühungen werden dadurch ergänzt, dass die Texte Singers und Rosenfelds inzwischen wieder publizier und damit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Hubert Schneider, Bochum

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