am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Andrea Petö: Das Unsagbare erzählen. Sexuelle Gewalt in Ungarn im Zweiten Weltkrieg

Im Zusammenhang mit den unzähligen Gräueltaten, die im Holocaust und Nationalsozialismus begangen wurden, wird der Begriff des ‚Unsagbaren‘ seit vielen Jahren und sogar Jahrzehnten geradezu ritualisiert und standardmäßig gebraucht. Sexuelle Gewalt – dazu gehören etwa Massenvergewaltigungen, sexuelle Demütigung, Verstümmelung der Genitalien und Sexsklaverei –, die während des Zweiten Weltkrieges an Frauen verübt wurde, gehört zu diesen Erfahrungen, für die es oftmals (vermeintlich) keine oder nur ungenügende Worte gab, die zudem niemand oder bloß sehr wenige hören wollten. Die Frage der sexuellen Gewalt werde oft sogar losgelöst von der Holocaustforschung betrachtet, so legt die ungarische Historikerin Andrea Petö in ihrer Untersuchung zu sexueller Gewalt in Ungarn im Zweiten Weltkrieg dar, die seit 2021 in deutscher Übersetzung aus dem Ungarischen von Krisztina Kovács im Wallstein Verlag vorliegt. Dabei komme ihr eine zentrale Rolle in der Kriegsgeschichte zu. Sexualität sei ein Werkzeug soldatischer Macht, es sei ein strukturelles Element der Kriegsführung und müsse als „eine Kriegswaffe“ (S. 26) betrachtet werden.

Petö hat einen Versuch unternommen, diese Geschichte zumindest in Ansätzen zu erzählen, indem sie die Massenvergewaltigungen von Frauen durch deutsche, sowjetische und ungarische Soldaten in Ungarn während des Zweiten Weltkrieges erforscht hat, aber auch an vielen Stellen einen breiteren Blick einnimmt und etwa auf vergleichbare Erfahrungen polnischer, tschechischer oder deutscher Frauen verweist. Die Schwierigkeiten bei der Untersuchung des Themas liegen auf mehreren und unterschiedlichen Ebenen, führt die Verfasserin aus. Es fehle an Quellen, um die Vergewaltigungen im Zweiten Weltkrieg zu erforschen und konkret zu belegen. Aktenmaterial sowie schriftliche Zeugnisse seien kaum vorhanden, erklärt Petö. Die Verfasserin musste sich daher auf die wenigen schriftlichen Quellen aus dem Bereich der auswärtigen Angelegenheiten und der Verwaltung, des Militärs und des Gesundheitswesens sowie der Kirchen und auf die nicht sehr zahlreichen Berichte von Opfern und Augenzeug:innen stützen. Viele Betroffene schwiegen meist aus Scham, darüber hinaus hätte ihnen ohnehin keiner zuhören wollen, so Petö. Von den Tätern (in dem Fall bedarf es keiner weiblichen Form) sei natürlich nicht zu erwarten, dass sie sich an einer Aufarbeitung beteiligen würden. Dennoch: Dass bestimmte Themen bislang nicht erforscht worden seien, so die Verfasserin, liege nicht primär darin begründet, dass es kaum Quellen oder Augenzeuginnen gegeben habe. Überlebende hätten nach Kriegsende durchaus in Interviews über sexuelle Gewalttaten gesprochen, sogar „mit fotografischer Detailliertheit“ (S. 22). Sie seien jedoch nicht gerade dazu ermutigt worden, von ihren Erlebnissen zu erzählen: „Die Öffentlichkeit wollte über ihr Leid nichts erfahren“ (ebd.).

Ihre Untersuchung gliedert Petö in vier Teile. Zunächst liefert sie einen Überblick über die Geschichte sexueller Gewalt im Zweiten Weltkrieg mit besonderem Blick auf Ungarn sowie die Typologie der Kriegsvergewaltigungen und deren Ursachen. Dabei zieht sie auch Vergleiche zu dem in Ungarn sehr unterschiedlich wahrgenommenen Verhalten der sowjetischen Truppen und dem der deutschen Besatzer 1944. Während Letztere nämlich überwiegend positiv erinnert und kaum mit sexueller Gewalt in Verbindung gebracht wurden, waren die Massenvergewaltigungen sowjetischer Truppen Teil des öffentlichen Diskurses. Sowjetische Soldaten seien als unzivilisierte, betrunkene und gewalttätige Barbaren wahrgenommen worden, den deutschen Soldaten sei dagegen eher Disziplin und ordnungsgemäßes Auftreten attestiert worden. 

Petö unternimmt im zweiten Teil eine Typologisierung der Kriegsvergewaltigungen und ihrer Ursachen und unterscheidet – dem Ansatz von Cynthia Enloe folgend – verschiedene Arten der Vergewaltigungen durch Militärangehörige. Sexuelle Gewalt ist strukturell und als Kriegswaffe zu betrachten, um etwa durch die Verletzung der Ehre der Frau den Mann und die Gesellschaft als Ganzes zu treffen. Dieser „archaisch-patriarchale Ansatz“ (S. 80) deutet diese demnach als eine Inbesitznahme des weiblichen Körpers, der zu einem „strategischen Objekt“ (S. 80) geworden ist. Das Opfer sei letztendlich gar nicht die Frau selbst, „sondern der Mann, dessen Macht sie zu Hause untergeordnet ist“ (ebd.). Sexuelle Gewalt ist so inhärenter Bestandteil des Krieges und die Frauen der eroberten Gebiete gehörten so dem Sieger. Die „rekreative Vergewaltigung“ (S. 79) sei dagegen eine Form der ‚Belohnung‘ und ‚Erholung‘ für Soldaten nach den Strapazen des langen Kampfes. 

Ein Problem stellt die Quantifizierung von Kriegsvergewaltigungen dar. Es gibt, wie Petö ausführt, im Grunde nur Schätzungen, die jedoch mitunter sehr weit auseinandergehen und ohne konkreten Nachweis bleiben müssen. Daher spricht sie hier auch von einem „Zahlenkrieg“ (S. 93). Anhand der Folgen der Gewalt – Geschlechtskrankheiten, Verletzungen, Schwangerschaften, Geburten und Abtreibungen sowie psychische Leiden –, die zumindest in einigen Fällen durch Krankenakten (oder viel seltener durch Gerichtsakten) belegt sind, lassen sich vage Schätzungen und Annahmen zu Kriegsvergewaltigungen vornehmen. Diese reichen beispielsweise von 20.000 bis zu 500.000 oder sogar 2 Millionen nach Kriegsende in Deutschland. In Bezug auf die in Ungarn verübten Vergewaltigungen wird eine Zahl von 80.000 bis 250.000 Fällen angegeben. Gleichzeitig, so betont Petö, sei die empirische Ermittlung von Massenvergewaltigungen moralisch wie wissenschaftlich problematisch. 

Im dritten Kapitel geht sie dann Fragen nach dem Gedächtnis nach und untersucht, welche Geschichten erzählt und welche verschwiegen werden. Frauen, die von ihren Erfahrungen sexueller Gewalt im Krieg sprachen, taten dies meist entweder aus einer Perspektive großer Distanz, so als seien es im Grunde die Erlebnisse einer anderen Person, „als wäre es jemand anderem passiert“ (S. 146), also aus dem Blickwinkel einer ‚sekundären Augenzeugin‘, oder nur sehr schematisch und unspezifisch. Literatur hat, wie Petö ausführt, allerdings einiges dazu beigetragen, sexuelle Gewalt im Krieg darzustellen und das Schweigen darüber zu brechen. Nicht wenige Frauen haben, so zeigt die Verfasserin, entgegen der allgemeinen Annahme ihre Erlebnisse niedergeschrieben. Diese Texte haben jedoch meist keine breite Öffentlichkeit erreicht. Ein Tagebuch aus Ungarn, das 1991 unter dem Titel „Frau an der Front“ erschienen ist, leistete etwa einen Beitrag dazu, „dass das Schweigen über soldatische sexuelle Gewalt in Ungarn gebrochen wurde“ (S. 147). Gerade die Fiktion, konkreter der „Dokumentarroman“ (S. 145), sei neben dem Tagebuch die Gattung, „in der dieser historische Fakt erzählbar wird“ (ebd.). So etwa in dem anonym publizierten zeugnishaften Roman „Eine Frau in Berlin“ (1954 auf Englisch, 1959 auf Deutsch erschienen), der, wie sich später herausstellte, von der Journalistin Marta Hillers verfasst wurde. Sie schildert darin ihre Erfahrung mit sexueller Gewalt durch sowjetische Soldaten. Um dieser zu entgehen, suchte sie bewusst einen russischen Offizier als Partner, der sie dann vor weiteren Gewalttaten schützte. Es sei jedoch wichtig, „sich klarzumachen, dass hier nicht die Menschen sprechen, die die Geschehnisse selbst erlitten, gefühlt und erlebt haben, sondern die, die sie beobachteten“ (ebd.), betont Petö. 
 

Abschließend thematisiert Petö das „Schweigen und Verschweigen“, etwa die (international) mangelhafte juristische Aufarbeitung der sexuellen Kriegsgewalt. Hierfür führt sie eine Vielzahl von Gründen an: Zum einen konnte z. B. der sexuelle Missbrauch von sowjetischen Soldaten juristisch in Ungarn nicht geahndet werden, da die sowjetischen Soldaten außerhalb der ungarischen Gerichtsbarkeit standen. Zudem wurden die Übergriffe oftmals durch die Opfer selbst geleugnet oder bagatellisiert, um die Ehepartner nicht zu beschämen oder sich nicht selbst einem Schuldvorwurf ausgesetzt zu sehen (etwa dafür, sich nicht genug gewehrt zu haben oder einen Vorteil aus der ‚Begegnung‘ gezogen zu haben). 

Insgesamt, so stellt sie fest, wird erst seit den jugoslawischen Kriegen 1991 und 1996 auch im öffentlichen Raum über Kriegsvergewaltigungen gesprochen. Bis heute stellt sich allerdings die Frage, wie angemessen über diese Erfahrungen gesprochen und an diese erinnert werden kann. Petö weist insbesondere auf das Fehlen sowjetischer bzw. russischer Erinnerungen und Quellen hin sowie auf den erinnerungspolitischen Kampf zwischen Russland und der Ukraine.  

Auch die Art und Weise des öffentlichen Erinnerns muss mitunter infrage gestellt werden. Einige Denkmäler etwa, so zeigt Petö, fallen eher voyeuristisch aus, als dass sie der Aufklärung und dem Gedenken dienen. Eine visuelle Erinnerung sei ohnehin besser zu vermeiden, da – nach Susan Sontag – das Betrachten von Bildern, die Gewalt darstellen, die Gewalt reproduzieren würde. 

Bedauernd anzumerken ist im Hinblick auf die Publikation allenfalls, dass Andrea Petö den Stimmen der Opfer selbst wenig Raum einräumt, sondern den Schwerpunkt ihrer Ausführungen auf die Auswertung von Quellen der Staatsverwaltungen, der Militärs, des Gesundheitswesens und der kirchlichen Behörden legt. Natürlich liegt dies aber, wie sie mehrfach betont, – leider – in wesentlichen Teilen darin begründet, dass es eben lediglich sehr wenige direkte Zeug:innen und Quellen über diese Verbrechen gibt. Diese Leerstelle wird durch Petös Forschungsbeitrag konkret aufgezeigt und beleuchtet. 

Ihr Buch leistet insgesamt weit mehr als ‚nur‘ einen sehr wichtigen und neuen Beitrag für die Aufarbeitungsgeschichte des Holocaust und Nationalsozialismus. Im April 2022 hat die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock in ihrer Rede beim Feminist Foreign Policy Summit über die Notwendigkeit einer feministischen Außenpolitik gesprochen und diese wenige Tage später, nachdem der CDU-Chef Friedrich Merz ihren Anspruch abfällig abgetan hat, vehement verteidigt, vor allem mit dem Argument, dass Vergewaltigung als Kriegswaffe noch im Jugoslawienkrieg nicht anerkannt und nicht vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) verfolgt wurde. Seit 1977 ist Vergewaltigung unter den Genfer Konventionen zwar als Kriegsverbrechen geächtet, doch erst 1998 wurde dies erstmals vor den UN-Kriegsverbrechertribunalen verhandelt und es kam zu einem Urteil gegen den ruandischen Ex-Bürgermeister Jean-Paul Akayesu. In der Resolution 1820 forderte der UN-Sicherheitsrat dann im Jahr 2008 die aktive Verfolgung sexueller Gewalt gegen Frauen als Kriegsverbrechen. 2016 erging das erste Urteil zu sexueller Gewalt am IStGH gegen den früheren kongolesischen Vizepräsidenten Jean-Pierre Bemba, der sexuelle Gewalt als Kriegswaffe eingesetzt hatte. Vor diesem Hintergrund sind Andrea Petös Forschungsergebnisse erst recht von großer Bedeutung für den Diskurs um Kriegsverbrechen insgesamt und vor allem um Kriegsverbrechen an Frauen. Zumal auch Berichte von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen durch russische Soldaten auf Ukrainerinnen im aktuellen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zeigen, wie traurig aktuell das Thema leider ist.

Charlotte Kitzinger, Arbeitsstelle Holocaustliteratur, JLU Gießen

Andrea Petö: Das Unsagbare erzählen. Sexuelle Gewalt in Ungarn im zweiten Weltkrieg.
Aus dem Ungarischen von Krisztina Kovacs.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
240 Seiten, 26 EUR.
ISBN-13: 9783835350724


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