am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Walter Manoschek: Vernichtet – Österreichische Juden und Jüdinnen in den Ghettos des Generalgouvernements 1941/1942

In Vernichtet – Österreichische Juden und Jüdinnen in den Ghettos des Generalgouvernements 1941/1942 beleuchtet Walter Manoschek, außerordentlicher Professor für Politikwissenschaft am Institut für Staatswissenschaft an der Universität Wien, ein Kapitel der Geschichte des Holocaust, das bisher eher unterrepräsentiert blieb: Über 9.000 österreichische Jüdinnen und Juden wurden zwischen Februar 1941 und Mai 1942 mit neun Transporten von Wien aus in eines der 342 Ghettos im Generalgouvernement Polen deportiert. Sowohl über das schwierige Leben im Ghetto als auch über die kleineren Ghettos selbst ist bisher wenig bekannt, obwohl diese sogar die Mehrheit der Ghettos bildeten (vgl. S. 9). Der Fokus der Arbeit liegt auf den Ghettos mit 5.000 bis 10.000 Einwohner*innen, mit Ausnahme des Ghettos Kielce, in dem ca. 27.000 Einwohner*innen lebten. Der Autor setzt in seinem Buch durch viele Puzzleteile, bestehend aus den wenigen überlieferten Ego- und Herrschaftsdokumenten sowie den Unterlagen der überschaubaren Nachkriegsprozesse wegen NS-Verbrechen in diesen Ghettos, ein klareres Bild der Lebensumstände und Schicksale zusammen, das jedoch aufgrund der schwierigen Quellenlage unvollständig bleiben muss.

Manoschek schildert zu Beginn seiner Studie die Situation der österreichischen Jüdinnen und Juden ab 1938, vor den ersten Deportationen ins Generalgouvernement. Im Anschluss daran werden die erste und zweite Phase der Deportationspolitik betrachtet, bevor sich den Ghettos Opole Lubelskie, Kielce, Modliborzyce, Opatów, Łagów sowie den umliegenden Gemeinden, den Deportationen in die Transitghettos 1942 und den Ghettos Izbica und Włodawa gewidmet wird.

Während die erste Phase der Deportationspolitik noch teilweise unkoordiniert war und sich durch Vertreibungen, Abschiebungen und Umsiedlungen kennzeichnete, wurden die Kompetenzen in der zweiten Phase der Deportationspolitik ab Mitte 1940 aufgeteilt. Zuvor lag die alleinige Verantwortung bei Reinhard Heydrich und dem Reichssicherheitshauptamt. Trotzdem konnten auch die Zielvorgaben der zweiten Phase durch Transportprobleme, bedingt durch nicht ausreichend ausgearbeitete Konzepte, nicht erfüllt werden.

Im Zentrum der Arbeit steht das Ghetto Opole Lubelskie, da dies das Ziel von zwei der insgesamt fünf Deportationen aus Wien im Frühjahr 1941 war. Andere Ghettos werden, auch aufgrund der mangelnden Quellenlage, lediglich überblicksartig behandelt. Außerdem werden nationalsozialistische Instanzen der Macht und Macht- bzw. Ohnmachtinstitutionen wie die Jüdische Soziale Selbsthilfe (JSS) und die Judenräte und Judenpolizei, die für das Verständnis des Lebens und der Organisation innerhalb der Ghettos von Bedeutung sind, beleuchtet.

Bereits bevor die groß angelegte Deportation der Jüdinnen und Juden von Wien aus in die Ghettos erfolgte, stellte der Nisko-Plan 1939 einen frühen Versuch dar, die Stadt Wien als erste Großstadt „judenfrei“ zu machen. So sollte im Zuge dessen ein „Judenreservat“ südwestlich von Lublin entstehen, um so möglichst viele jüdische Menschen über die deutsch-sowjetische Demarkationslinie zu treiben oder sie dort hilflos sich selbst zu überlassen. Der Plan scheiterte jedoch und so wurden einige der Deportierten per Entlassungsschein sogar nach Wien zurückgebracht.

Zwischen den Schilderungen der Deportationen, also dem Zeitpunkt des gezwungenen Verlassens des eigenen Wohnortes bzw. der Sammellager und der Ankunft im Ghetto, und denen des Lebens innerhalb der Ghettos lassen sich einige Parallelen feststellen. So werden die unzumutbaren Lebensumstände, mangelnde Verdienstmöglichkeiten, horrende Lebensmittelpreise und furchtbare hygienische Zustände in den Ghettos oft ähnlich geschildert. Aus den Postsendungen geht hervor, dass auch um Zusendung von Hilfspaketen und Geld immer wieder gebeten wurde. Wie schlimm die Lebensumstände waren, zeigen beispielsweise die Darstellungen von Emilie Wolf des Ghettos Opole Lubelskie nach Kriegsende: „Da mein Mann vorher schon im KZ Dachau und Nisko war, konnte er den Unterschied mit Gewissheit sagen und kennen. Und er sagte, es war das ärgste Lager.“ (S. 90). Während die Postsendungen „ein Stückchen Heimat“ (S. 93) für die Menschen bedeuteten konnte und zu Beginn reger, teilweise unzensierter Postverkehr sogar zwischen den verschiedenen Ghettos herrschte, gab es auch andere kleine Ghettos, in denen es gar keinen Kontakt zur Außenwelt gab.

Für einen Teil der Internierten konnten auch Glaubensfragen zur Erschwerung der Lebensumstände beitragen, denn in den Ghettos spitzten sich teilweise auch die intensiven konfessionellen Konflikte zwischen den „Glaubensjuden“ und den „Nichtglaubensjuden“ bzw. nicht-arischen Christen zu. Für die konvertierten Christ*innen fühlte sich in den Ghettos niemand verantwortlich und so wird aus Briefen deutlich, dass sich einige lieber den Tod wünschten, als so weiter leben zu müssen. Halt suchten die Menschen, die vorwiegend katholischen Glaubens waren, im postalischen Austausch mit Ordensträgern außerhalb des Ghettos sowie im Besuch von Gottesdiensten, sofern dies noch möglich war.

Interessant ist in diesem Kontext außerdem, dass sich in den wenigen erhaltenen Briefen und Postkarten, insgesamt waren es nur etwa 100, auch antisemitische Stereotype finden lassen. So ist beispielsweise von „übertrieben koscheren“ (S. 117) und faulen „Glaubensgenossen“ (S. 119) die Rede, von denen keiner lesen oder schreiben kann, die aber im Rechnen einzig sind (vgl. S. 118). 

Mit Beginn der sogenannten Aktion Reinhardt veränderten sich die Deportationen und die Lebensumstände in den Ghettos noch einmal radikal. Der Aufenthalt in den Ghettos war nun meist nur noch von kurzer Dauer, bevor die Jüdinnen und Juden in die Vernichtungslagern Bełżec, Sobibór und Treblinka deportiert und dort ermordet wurden. Auch in den Ghettos selbst wurde eine große Anzahl von Menschen ermordet.

Von den 1941 und 1942 in die Ghettos des Generalgouvernements verschleppten 9.000 österreichischen Jüdinnen und Juden überlebte nur etwa 1% den Holocaust. Von den Briefeschreiber*innen überlebte niemand.

Manoschek legt mit seinem, im generischen Femininum verfassten, Sachbuch eine wichtige und spannende Recherchearbeit vor, die bereits in ihrem Titel sowohl auf die Vernichtung der Jüdinnen und Juden als auch die Vernichtung ihrer Zeugnisse verweist. Er ist damit dem Ziel ein Stück nähergekommen, auch, wenn die Nationalsozialisten dies mit allen Mitteln zu verhindern versuchten Opferschicksale zu erschließen und Täter:innen zu benennen.

Von Tessa Schäfer

Walter Manoschek: Vernichtet – Österreichische Juden und Jüdinnen in den Ghettos des Generalgouvernements 1941/1942
Wien: Czernin Verlag, 2023
288 Seiten, 28 Euro
ISBN 978-3-7076-0821-2


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