am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Gedenken an Ruth Römer

21.06.2011

Am 21. Juni 2011 verstarb nach kurzer schwerer Krankheit die Germanistin Ruth Römer im vierundachtzigsten Lebensjahr

Ruth Römer
Ruth Römer

Prof. Jörg Riecke würdigt die am 21. Juni 2011 in Bielefeld verstorbene Sprachwissenschaftlerin Prof. Ruth Römer in seinem Nachruf als herausragende Wissenschaftlerin, deren Standardwerk "Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland" (1985) die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Faches im Dritten Reich "auf eine ganz neue Grundlage gestellt" habe.

Am 21. Juni 2011 verstarb nach kurzer schwerer Krankheit die Germanistin Ruth Römer im vierundachtzigsten Lebensjahr. Geboren in Dresden, studierte sie nach ihrem Abitur Germanistik, Philosophie und Geschichte an der Universität Leipzig. Sie hörte dort unter anderem bei Theodor Frings und Elisabeth Karg-Gasterstädt, Ludwig Erich Schmitt und Hermann August Korff, große Namen aus germanistischer Vergangenheit. Nach ihrem Staatsexamen arbeitete sie von 1953-1955 als Verlagsredakteurin, 1956 wurde sie Assistentin an der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Ostberlin, wo sie unter anderem für Ernst Bloch tätig war. Ernst Blochs Leipziger Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (1950-1956) hat sie noch 1985 herausgeben können, ihre Erinnerungen an den Leipziger Lehrer im Bloch-Almanach 10 (1990) veröffentlicht. In kritischem Denken nicht zuletzt durch Ernst Bloch geschult, geriet sie früh in den Blickpunkt der Staatsicherheit, schon bald war klar, dass sie in der DDR keine Zukunft haben würde. Über ihre umfangreiche Stasi-Akte hat sie bis zuletzt gestaunt.

Nachdem sie 1960 gemeinsam mit ihrem Mann Karl Römer in die Bundesrepublik Deutschland „übergetreten“ war, verlagerte sich ihr wissenschaftlicher Schwerpunkt von der Philosophie auf die Germanistik, insbesondere auf die deutsche Sprache.

Dies geschah wohl aus Neigung, war aber auch durch die Umstände bestimmt, denn 1961 ergab sich die Möglichkeit einer Anstellung bei der Gesellschaft für deutsche Sprache in Lüneburg und die Mitarbeit an einem Forschungsunternehmen über Art und Verlauf sprachlicher Wirkungen in der Gegenwart. 1963 holte sie Hugo Moser als Assistentin an das Germanistische Seminar der Rheinischen Friedrich-Wilhelms Universität zu Bonn, wo sie ihre Forschungen fortsetzen konnte. Hier wurde sie 1966 mit einer inzwischen mehrfach aufgelegten Studie zur „Sprache der Anzeigenwerbung“ promoviert.

Unnachahmlich und charakteristisch in ihrer Direktheit ist der Beginn ihres „Lebenslaufs“, der ihrer gedruckten Dissertation 1968 angehängt ist: „Ich, Elisabeth Ruth Römer, geb. Kirschner, wurde am 28. September 1927 in Dresden als uneheliches Kind der Fabrikarbeiterin Erna Kirschner, jetzt verwitwete Pribuß, und des Fabrikarbeiters Otto Kipp geboren. Von 1933 bis 1937 besuchte ich die Volksschule, von 1937 bis 1943 die Mittelschule, wo ich die Mittlere Reife erwarb, danach eine Privatschule, die auf das Abitur vorbereitete […]“ Ihrem Vater Otto Kipp, der von 1938 bis 1945 als Kommunist Häftling in Buchenwald war, hat Jorge Semprún, Buchenwald-Häftling 1944 bis 1945, in „Der Tote mit meinem Namen“ ein Denkmal gesetzt.

Mit der Habilitation 1971 folgte Ruth Römer einem Ruf an die Pädagogische Hochschule Bielefeld und erhielt eine Professur für deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik. Nach dem Aufgehen der Pädagogischen Hochschule in der Universität Bielefeld blieb sie als Professorin an der neugegründeten Bielefelder Universität, wo sie 1990 in den Ruhestand verabschiedet wurde.  

Ihre Hauptarbeitsgebiete waren die deutsche Sprache der Gegenwart und der Einfluss von Politik und Ideologie auf Sprache, Sprachwissenschaft und Sprachwissenschaftler in Geschichte und Gegenwart. „Die Sprache der Anzeigenwerbung“ (6. Aufl. 1980) ist längst ein Klassiker, ihre Arbeit über „Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland“ (2. Aufl. 1989) ein großer Wurf, der die längst überfällige Auseinandersetzung mit der Geschichte der Sprachwissenschaft im Nationalsozialismus auf eine ganz neue Grundlage gestellt hat. Dabei ist sie sich sehr bewusst gewesen, dass im Einzelfall manche Kritik schärfer, mache Polemik heftiger ausgefallen ist, als dies heute mit dem Abstand von 25 Jahren geschehen würde. Aber das Buch musste damals so und nicht anders geschrieben werden. Und auch hier – in der 1. Auflage 1985 – gibt das Vorwort wieder unverstellte Einblicke in Ruth Römers Arbeitsweise, ihre Eigenständigkeit und den erfrischend offenen Umgang, auch mit mancher Zurücksetzung, die sie an ihrer Universität erfahren hat:

„Ich habe dieses Buch neben meiner Lehre in größter Zurückgezogenheit und Konzentration auf diesen einen Zweck geschrieben. Fachliche Anregungen habe ich von keiner Seite erhalten, ebensowenig habe ich materielle Unterstützung erhalten, etwa zum Druck des Buches. Alles, was ich gefunden und alles, was ich übersehen habe, verantworte ich daher in höchstem Grade allein. Doch bin ich voller Dankbarkeit. Vor allen anderen danke ich meinem Mann, einzigartigem Gesprächspartner seit mehr als dreißig Jahren. […] Einer großen anonymen Institution möchte ich noch danken, die sonst immer schwerster Vergehen angeklagt wird: es ist die Gesellschaft. Sie hat mir eine jahrelange Existenz zwischen Büchern ermöglicht. Mit diesen Büchern stand ich in einem faszinierenden Diskurs. Aus ihnen drang zwar auch die Stimme der Barbarei, aber öfter und lauter die der Humanität. Der Band ist geschrieben worden in nie nachlassender Trauer um die Opfer des Rassenwahns.“

Vorbereitet und begleitet wurde das Buch von zwei großen Studien – erschienen in der Zeitschrift Muttersprache 1981 und 1993 – über Sigmund Feist, einen der bedeutendsten Sprachhistoriker des beginnenden 20. Jahrhunderts, der wegen seiner jüdischen Herkunft und seinen wissenschaftlichen Ansichten, die mit der herrschenden Nationalphilologie nicht kompatibel waren, nach und nach aus dem Fach hinausgedrängt wurde und seinen Lebensunterhalt als Leiter eines Berliner Waisenhauses verdienen musste.

Dass ausgerechnet ihr wegen ihres Eintretens für den Bielefelder Bibliothekar und Historiker Johannes Rogalla von Bieberstein und dessen Buch „Jüdischer Bolschewismus. Mythos und Realität“ (2002) von Bielefelder Studenten und Kollegen eine „rechte Gesinnung“ unterstellt wurde, hat sie tief verletzt. Davon zeugt ihre Herausgabe des Bandes „Geistige Brandstifter von Links. Wie Anti-Demokraten an den Hochschulen den Ton angeben. Am Beispiel Bielefeld“ (2007).

Als „Zeugin des Jahrhunderts“ und engagierte Brief- und Leserbriefschreiberin bewahrte sie stets ihre kritische Haltung und wurde niemals müde, Freiheit in einem umfassenden Sinn als erstes elementares Gut moderner Demokratie zu vertreten, auch auf die Gefahr hin, missverstanden zu werden und Beifall von der falschen Seite zu erhalten.

Ihr letztes zu Lebzeiten erschienenes wissenschaftliches Buch hielt sie für „verfehlt“, weil es bislang kaum Resonanz gefunden hat. „Verstand Kassandra Griechisch? – Sprachschranken im Drama“ (1998). Aber vielleicht ist sie auch mit dieser Studie – wie stets – ihrer Zeit einfach nur sehr weit voraus gewesen. Bei unserem letzten Treffen im März berichtete sie mir von ihrem Plan „für meine Freunde, etwa 30 Menschen dürften mich noch kennen“ eine Sammlung ihrer kleineren Schriften herauszugeben. Sie war überrascht und erfreut, dass der Bielefelder Aisthesis-Verlag sofort bereit war, diese von ihr zusammengestellte Sammlung „als richtiges Buch mit allem drum und dran“ herauszugeben. Sein Erscheinen, das unmittelbar bevorsteht, hat sie nicht mehr erleben dürfen. Der Band enthält Aufsätze aus fünf Jahrzehnten, von ihrem ersten Text – wieder eine überraschende Facette – „Was ist ein Frauenroman?“, der vieles der späteren Forschung vorwegnimmt, bis hin zu „Sprachkritischen Anmerkungen zum Historikerstreit“ und einem „Abgesang auf die Sprache der DDR“. Es sind Zeugnisse eines kritischen und lebendigen Geistes, einer außergewöhnlichen Wissenschaftsbiographie und zugleich auch der Geschichte der Germanistik in Ost- und Westdeutschland.

Ihre Stimme ist nun verstummt, unser Plan einer gemeinsamen Geschichte der jüdischen Sprachgermanisten des 20. Jahrhunderts bleibt Fragment. Wer das Glück hatte, Ruth Römer kennenzulernen, wird sie sehr vermissen.



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