am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Hans Werner Richter: Die Stunde der falschen Triumphe

Fast dreißig Jahre nach der Erstveröffentlichung bringt der Berliner Wagenbach Verlag Hans Werner Richters Roman "Die Stunde der falschen Triumphe" in einer günstigen Taschenbuchausgabe wieder heraus. Damit, so steht zu hoffen, findet ein Werk, dessen Grundfragen nicht an Aktualität verloren haben, neue Leser. Die Frage ist ebenso einfach wie Antworten darauf schwierig sind: Wie und warum passten sich Menschen an die wechselvollen Zeitläufte der dreißiger und vierziger Jahre an? Welche Konsequenzen hatte dies für die örtliche Gesellschaft, aber auch für den Einzelnen selbst? Das sind im Grunde genommen Fragen, an denen sich ganze Disziplinen bis heute abarbeiten, ohne zu abschließenden Antworten kommen zu können.

Angesiedelt ist die Handlung in einem Dorf, in dem Willi als kleiner Friseur sein zufriedenes und relativ unbeschwertes Leben lebt, den Schwatz mit den Kunden genießt und gerne Anekdoten zum Besten gibt. Missmutig beobachtet Willi, wie die Politik in diese Atmosphäre eindringt und Konflikte zwischen den Dorfbewohnern, seinen Kunden sät, aus denen er sich herauszuhalten versucht. Diese von der Sorge ums Geschäft getragene Haltung behält er auch bei, als 1933 nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten sein Schwager, Sozialdemokrat und Lehrer, verhaftet wird. Trotz dieser familiären Tragödie gibt Willi Schritt für Schritt dem Anpassungsdruck nach, nicht verlegen um distanzierende Ausreden, etwa wenn es um das Hissen der Hakenkreuzfahne geht: "Es ist doch ganz egal, ob wir den Lappen heraushängen oder nicht, wir bleiben doch dieselben, wir ändern uns doch nicht" (S. 23). Damit hat Willi bereits eine schiefe Ebene betreten, auf der er immer weiter abrutscht, bis er schließlich auch dem sanften Druck des Ortsgruppenleiters nachgibt und in die NSDAP eintritt, was er eigentlich nicht wollte. Auf Druck seiner Frau beichtet er es seinem inzwischen entlassenen Schwager, der Verständnis zeigt und sagt, er wisse ja, dass Willi eigentlich dagegen sei, aber aus Rücksicht auf das Geschäft nicht anders könne. "Für einen Augenblick", so heißt es, "wurde Willi unsicher, es war ihm nicht ganz klar, ob er dagegen war oder nicht; doch jetzt, hier, seinem Schwager gegenüber, war er dagegen, das war gewiß" (S. 31).

Dem Sog der Erfolge Hitlers in den folgenden Jahren kann sich auch Willi nicht entziehen, der schon so manchen Kompromiss gemacht und sich nach allen Seiten angepasst hat. Manchmal hat er schon das Gefühl, die Erfolge Hitlers seien seine eigenen.

Richter zeichnet mit klaren und knappen Linien ein plastisches Bild von Anpassungsdruck und Anpassungswilligkeit in einer kleinen überschaubaren Dorfgesellschaft, nach 1933, aber auch nach Kriegsende, denn die von der Dorfmehrheit rasant vollzogene Wende weg vom Nationalsozialismus spart er nicht aus. Die fast schon naiv zu nennende Erzählhaltung spiegelt dabei letztlich Willis Naivität und zunehmenden Selbstbetrug. Es ist aber nicht nur eine kopflose Masse von Opportunisten, die letztlich anonymen Vorgaben folgt, die Richter schildert. Er seziert vielmehr genau die Mechanismen und Akteure der Anpassung, diejenigen, die am Ort Propaganda machen und Druck ausüben, sowie diejenigen, die – wie Willi – auf die Einflüsterungen hören und zunehmend auch Gutes im System zu sehen vermögen.


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