am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Steve Sem-Sandberg: Die Elenden von Lódz

Steve Sem-Sandberg: Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lodz von Steve Sem-Sandberg ist ein dokumentarischer Roman, der seine Fakten zu großen Teilen aus der Getto-Chronik zieht, die an mehreren Stellen zitiert wird. Zudem bedient sich der Autor zahlreicher anderer Quellen und mischt diese mit fiktiven Details und Handlungen. Im besonderen Fokus der Erzählung steht der "Älteste der Juden", Mordechai Chaim Rumkowski.

Funktionäre und Beamte des Gettos, deren Namen und Tätigkeiten vielfach dokumentiert sind, haben ihre Namen und Identität behalten, doch die Charaktergestaltung, die Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt einzelner Figuren sowie alle Schilderungen zwischen den Fakten, die dem Roman Leben einhauchen und das Geschilderte dem Leser nahe bringen, sind das Resultat von Sem-Sandbergs enormer Ausdrucksfähigkeit und seines Einfühlungsvermögens. Andere im Roman vorkommende Figuren sind völlig fiktiv oder haben ein oder mehrere reale Vorbilder als Grundlage, die aber anonym bleiben.

Sem-Sandbergs Gespür für Atmosphäre lässt das Leben im Getto auf eindrucksvolle Weise anschaulich und lebensnah erscheinen. Vor dem Auge des Lesers entsteht ein graues, schmutziges, stinkendes Getto. Mit absoluter Klarheit und Brutalität beschreibt er den alltäglichen Überlebenskampf in dieser Zwangsgemeinschaft.

Aus dem kollektiven Durcheinander eines überfüllten Gettos hebt er einige Figuren hervor, deren Schicksal er in sporadischen Nahaufnahmen einfängt. Immer wieder zoomt er sich an diese Figuren heran, um dann wieder zur Makroperspektive zurückzukehren. Diese Schilderungen der durch Hunger, Krankheit und Deportationen zerstörten Familien, des unfassbaren Leids, der Armut und des Todes lassen das Getto als eigene, geschlossene Wirklichkeit erstehen, beängstigend und klaustrophobisch.

Hautsächlich geht es in dem 650 Seiten langen Roman jedoch um Mordechai Chaim Rumkowski, dem Judenältesten des Gettos, der wegen seiner ambivalenten Rolle und seines oft als problematisch beschriebenen Charakters vielleicht die umstrittenste Person in der Geschichte des Holocaust ist.

Einerseits gelang es ihm, das Getto durch unermüdliche Arbeit für die deutsche Kriegswirtschaft unersetzbar zu machen ("Unser einziger Weg ist Arbeit" war seine stetig wiederholte Losung) und so bis August 1944 vor der endgültigen Räumung zu bewahren. Mehr oder weniger bereitwillig opferte er für seine Visionen von der "jüdischen Arbeiterstadt" jedoch die alten und kranken Menschen und vor allem die Kinder des Gettos, die von den deutschen Besatzern ihren Familien entrissen und mit dem Ziel der Vernichtung deportiert wurden. "Die Glieder müssen amputiert werden, damit der Körper gerettet werden kann", hieß es in seiner berühmt-berüchtigten Rede im September 1942.

Rumkowski ist bei Sem-Sandberg ein mit enormem Machtanspruch und Geltungssucht ausgestatteter Tyrann, der als Retter (einzelner) und Verräter auftritt, als Patriarch und Marionette der deutschen Besatzungsmacht. Er ist der willige Vollstrecker der nationalsozialistischen Vernichtungspläne, einzig und allein die Deportation "seiner" Getto-Kinder führt beinahe zum Zusammenbruch und zur Befehlsverweigerung.

Um dieses zentrale Geschehen der "Septemberaktionen" kreist der Roman, um die Frage, ob es einen Punkt gibt, an dem der Verrat so unerträglich wird, dass auch der willigste Verräter daran zerbricht. Darauf gibt der Roman jedoch keine eindeutige Antwort. 

Am Ende kommt die Befreiung durch die sowjetische Armee für das Getto zu spät, Rumkowski verpasst seine Chance, zum Retter und Held der Geschichte zu werden, seine Strategie, das Getto durch unermüdliche Arbeit zu retten, geht nicht auf. Das Getto wird geräumt, auch Rumkowski und seine Familie sowie nahezu die gesamte Gettoprominenz werden ins Vernichtungslager deportiert, nur das Aufräumkommando und einige wenige versteckte Personen fristen ein elendes Dasein in der Hoffnung auf eine baldige Befreiung.

Erlösung und Befreiung gibt es für den Leser jedoch am Ende so wenig wie für die Gettobewohner - dafür versteht Sem-Sandberg letztlich auch sein schriftstellerisches Handwerk zu gut... 

Der Roman hat in Schweden 2009 den renommierten Augustpreis erhalten. Das Buch ist gerade im Klett-Cotta Verlag auf Deutsch erschienen. 

Von Charlotte Kitzinger


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