am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Daniel Mendelsohn: Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen

Daniel Mendelsohn: Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen

Daniel Mendelsohn hat sich auf die Suche gemacht, auf die Suche nach den Spuren seiner Familie, die ihn in viele Länder geführt hat. Es ist nicht irgendeine Spurensuche, auf die er sich begibt. Die Frage nach dem genauen Schicksal seines Großonkels, dem er so sehr ähnelte, dass Verwandte immer wieder weinen mussten bei seinem Anblick, entwickelt sich zu einer akribischen, bisweilen besessenen Rekonstruktion der Familiengeschichte. Herausgekommen ist dabei am Ende ein bewegendes und kluges Buch über die Ermordung der Juden, über die Zerstörung einer einzelnen Familie, über das Leben nach dem Überleben, über die Last der zweiten und dritten Generation und über Familienlegenden, die Schutz bieten sollten.

Gemeinsam mit seinem Bruder, einem Fotographen, macht sich Mendelsohn auf die Reise in die Ukraine, wo seine Familie herstammt, nach Israel, Australien oder Dänemark. Er spricht mit zahlreichen Überlebenden aus dem Heimatort seines Großonkels, er sucht die Orte auf, wo er gewohnt hat, wo die Nationalsozialisten die Juden zusammentrieben, wo sie sie ermordeten und schließlich auch den Ort, wo sich ein Teil der Familie vergeblich versteckte. Und er spricht mit alten Bewohnern, die sich noch an die Besatzungszeit erinnern. Manche erinnern sich auch noch an seinen Großonkel Shmiel, der Metzger am Ort war.

Mendelsohn zeigt, was sich hinter der unfassbaren Dimension des Massenmords an den Juden verbirgt, was – letztlich verschleiernde und enthistorisierende – Formulierungen wie "gestorben im Holocaust", die immer häufiger zu lesen sind, bedeuten, indem er das Schicksal der "sechs von sechs Millionen" mühsam zu ergründen sucht. Der besondere Wert seines Buches ergibt sich auch daraus, dass er sich nicht darauf beschränkt, das Ergebnis seiner Recherchen zu erzählen, sondern die Recherche selbst erzählt, die Sackgassen, in die er gerät, die Enttäuschungen, die er erlebt, und die vielen kleinen Mosaiksteinchen, die am Ende zwar ein Bild, aber immer nur ein lückenhaftes Bild ergeben und damit sehr viel über die umfassende Vernichtung von einzelnen Menschen und ihren Spuren zeugen. Es ist aber nicht nur die Familiengeschichte, von der der Leser erfährt und berührt wird. Ganz nebenbei eröffnen sich in den Gesprächen Mendelsohns mit Verwandten, mit Überlebenden aus der Region seines Großonkels weitaus mehr Geschichten und Schicksale von Menschen, die zwar überlebt haben, doch dem Grauen nie entronnen sind, es immer mit sich tragen, gleich an welchem Ort der Erde sie gelandet sind.

Von Markus Roth


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